Diskriminierung
Gendergerechte Sprache: Wie kommen Menschen mit Behinderung damit klar?
24.6.2021, 06:25 UhrEs geht um diejenigen, die mit der üblichen Sprache schon herausgefordert sind: Blinde, Gehörlose, Legastheniker und Menschen mit geistigen Behinderungen.
Aleksander Pavkovic kann sich nicht einfach hinsetzen und eine Zeitung lesen. Als Doktor der historischen komparativen Linguistik liegt das nicht daran, dass ihm die Inhalte zu kompliziert sind. Sondern daran, dass er von Geburt an blind ist. Texte ertastet er am PC über eine Braille-Zeile mit Punkten oder lässt sie sich von einem Programm vorlesen.
Kein Lesefluss mehr
Das sagt neuerdings immer häufiger Dinge wie "Bäcker. Stern. Innen". "Das ist natürlich eine Irritation, die mich aus dem Lesefluss bringen kann, da ich an dieser Stelle nichts mit einem Stern erwarte", meint Pavkovic. "Andererseits sind Sternchen oder Unterstrich ja auch für Sehende bewusst eine kleine Irritation, ein Moment zum Innehalten."
Als IT-Zugangs-Berater beim Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund in München wird er täglich mit den unterschiedlichen Positionen zum Gendern konfrontiert: "Das ist in der Blinden-Community genauso heftig umstritten wie im Rest der Gesellschaft." Aber zumindest was die Vorleseprogramme angeht, ist ein Konsens gar nicht nötig: "Viele Screenreader können sehr individuell eingestellt werden. Ob ich beim Wort "Bäcker*innen" also "Bäcker. Stern. Innen", "Bäcker. Innen" oder einfach nur "Bäckerinnen" hören will, kann ich mir selbst aussuchen."
Mit dem Lesen hat Schülerin Lisa (Name auf Wunsch geändert) gar kein Problem. Doch bei einer Unterhaltung ist sie als Gehörlose auf Gebärdensprache angewiesen: "Auch hier wird viel über das Gendern diskutiert", meint sie. "Bei uns geht es aber vor allem um diskriminierende Gesten – also solche, die Bezug auf körperliche Merkmale nehmen oder die mit Mundbewegungen verbunden sind, die manche als unangenehm empfinden."
Neutrale Gebärden
Ansonsten ist die Gebärdensprache bereits weitgehend neutral: "Bäcker" und "Bäckerin" werden beide durch das angedeutete Kneten eines Teigs dargestellt. "Und vor Ort kann ich meist auch ganz einfach auf Personen oder Gruppen zeigen – etwa eine einladende Geste mit der flachen Hand in die Runde. Das bedeutet: ,Ihr seid alle gemeint‘".
Komplizierter wird es bei Menschen mit Lese-Rechtschreib-Schwäche. Also Personen, die aufgrund einer besonderen genetischen Veranlagung große Schwierigkeiten haben, sich die Gestalt von Worten zu merken – obwohl sie sonst geistig genauso fit sind wie alle anderen.
"Es gibt noch keine wissenschaftlichen Untersuchungen dazu, aber in der Praxis stößt das Gendern auf großen Widerstand", meint Annette Höinghaus vom Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie in Bonn. "Wir haben es durchaus versucht und auf unserer Homepage mit Sternchen, Doppelpunkten, Unterstrichen und großem I experimentiert."
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Nichts davon funktionierte wirklich: "Jedes zusätzliche Zeichen stört den Lesefluss erheblich. Als besonders störend wurde das große I empfunden, da ein Großbuchstabe sonst immer bedeutet: Hier beginnt ein neues Wort." Höinghaus sieht deshalb durchaus die Gefahr gegeben, dass durch konsequentes Gendern eine Elitesprache geschaffen werden könnte, welche die geschätzt 3 Millionen Legastheniker in Deutschland stark benachteiligen wird.
"Ich kann verstehen, warum Menschen gendern wollen", meint Höinghaus. "Aber jede erneute Hürde macht es uns schwerer. Besser wäre es, die Sprache allgemein leichter zu machen. Etwa durch konsequente Kleinschreibung. Oder dadurch, dass gleich geschrieben wird, was gleich klingt – wie ,Biene‘ und ,Maschine‘."
Bilder als Erklärung
Noch kritischer wird die Situation für Menschen mit geistiger Behinderung oder Lernschwierigkeiten. Viele benötigen Übersetzungen in ,Leichte Sprache‘. Die kommt gänzlich ohne Nebensätze aus und versucht alles so knapp wie möglich zu halten. Zudem verwendet sie eine größere Schrift und erklärende Bilder.
"Die Worte sollen kurz und einfach sein", meint Osman Sakinmaz. Er arbeitet im "Büro für Leichte Sprache und Barriere-Freiheit" in Osnabrück und hat selbst eine Lernbehinderung. Er prüft Texte darauf, ob sie auch wirklich verständlich sind. Das Gendern kommt dabei nicht gut weg: "Unterstrich geht gar nicht. Da denke ich: Der Satz ist zu Ende. Doppelpunkt geht gar nicht. Da denke ich: Es kommt eine Aufzählung. Sternchen geht. Wenn es sein muss."
Am liebsten wäre ihm aber eine einheitliche Form für alle Geschlechter. Welche ist ihm egal – selbst originelle Alternativen wie Bäcks, Bäcky oder Bäck wären ihm lieber als "Bäcker und Bäckerinnen." Denn: Sobald ein Satz länger als eine Zeile ist und der Blick in die nächste springen muss, klappt das oft nicht.
Bitte kurz und einfach
"Das ist ein ganz schwieriges Thema, weil leichte Sprache nur funktioniert, wenn sie kurz und einfach sein kann", meint Thorsten Lotze vom Verein "Netzwerk Leichte Sprache". "Wenn wir nicht von Ämtern ausdrücklich darum gebeten werden, gendern wir deshalb in unsern Übersetzungen nicht, sondern verwenden die Form, die am bekanntesten ist. Also meist die männliche."
Auch beim Netzwerk Leichte Sprache will man natürlich wissen, was die Betroffenen davon halten, was aber aufgrund der besonderen Klientel gar nicht so leicht herauszubekommen ist: "Wir planen gerade eine großangelegte Umfrage unter Menschen mit Lernschwierigkeiten. Aber da wir ein ehrenamtlicher Verein sind wird es noch sehr lange dauern, bis wir Ergebnisse haben."
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