Filmfestival Türkei Deutschland

In Erdogans Schusslinie: Regisseur Baris Atay über Kunst und Politik

25.7.2021, 17:54 Uhr
Ist zum vierten Mal beim Filmfestival dabei: Baris Atay im Nürnberger Künstlerhaus.

© Eduard Weigert Ist zum vierten Mal beim Filmfestival dabei: Baris Atay im Nürnberger Künstlerhaus.

Die drei Jurys des 25. Filmfestivals Türkei Deutschland, das am Wochenende in Nürnberg zu Ende ging, haben entschieden: Neun Preise mit insgesamt 10.000 Euro wurden diesmal vergeben. Die Kästner-Verfilmung „Fabian oder der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf wurde als „Bester Spielfilm“ prämiert, Ali Atay für seine Rolle in „Nuh Tepesi/Noahs Hügel“ als bester Hauptdarsteller, Alina Şerban für „Gipsy Queen“ als beste Hauptdarstellerin geehrt. Regisseur Emin Alper erhielt den Preis der Jury für seinen Film „Kız Kardeşler/Eine Geschichte von drei Schwestern“. Den Publikumspreis holte sich mit großer Mehrheit die Filmparabel „Aden/Eden“ von Baris Atay.

"La Paz" und "no pasaràn" hat sich Baris Atay auf den linken Arm tätowieren lassen, "ya basta" auf den rechten. Drei von vielen Tattoos, mit denen sich der türkische Schauspieler, Filmemacher und Politiker sichtbar zu seiner linksdemokratischen Haltung bekennt. "La Paz" – der Friede – bedeutet auch sein Vorname Baris auf Türkisch. Ein guter Name für einen Menschen, der sich schon zu Schulzeiten politisch engagierte, in der Studentenbewegung aktiv war und während der Gezi-Proteste 2013 in Istanbul auf allen sozialen Medien-Kanälen deutlich seine Meinung über die Regierung sagte. Was seine Karriere als Fernsehschauspieler abrupt beendete. "Die Sender in der Türkei hängen alle eng mit der politischen Macht zusammen. Es war ihnen zu riskant, weiter mit mir zu arbeiten."

Atay, der in Istanbul Film studiert hat, wechselte zum Kino und auf den Regiestuhl und ist mit seinem zweiten Spielfilm "Aden" (Eden) erneut in den Wettbewerb des Nürnberger Filmfestivals Türkei/Deutschland eingeladen. Das im kargen Nirgendwo spielende Drama erzählt von dem Ehepaar Marba und Aras. Auf der Flucht vor einem unbenannten Krieg finden sie Unterschlupf bei zwei Brüdern, die aber ein dunkles Geheimnis hüten.

Der Film, der eine ungeheure Spannung entwickelt, ist für Atay eine Parabel auf die ungleichen Machtverhältnisse in jeder Gesellschaft. Seine Figuren vergleicht er mit einer Pyramide: Die Macht, repräsentiert durch den ältesten Bruder, bildet die Spitze. Der Jüngere verkörpert die Opposition, die alles tun würde, um an die Macht zu gelangen. Marba steht für die breite Gesellschaft, die bereit ist, sich mit jeder Regierung zu arrangieren, Aras für den Mut der Frauen, gegen die bestehenden Verhältnisse aufzubegehren.

Was es mit dem dunklen Geheimnis auf sich hat, soll hier nicht verraten werden. Nur soviel: Es verweist auf Atays Kampf für die Ausgebeuteten, die Verlierer des kapitalistischen Systems, für die er sich auch als stellvertretender Vorsitzender und Parlamentsabgeordneter der türkischen Arbeiterpartei engagiert.

Ziel der 2017 neu gegründeten TIP ist der Aufbau eines sozialistischen Staates, womit die Partei direkt in der Schusslinie des autokratischen Regimes von Präsident Recep Tayyip Erdogan steht. "Wir spüren ständig den warmen Atem der Polizei und der staatlichen Repression", erzählt Atay. Er selbst wurde 2020 auf der Straße von Anhängern der AKP tätlich angegriffen. Es gebe mehr als zehn Gesuche, seinen Schutzstatus als Abgeordneter aufzuheben.

Wie sehr der politische Druck auch auf die Kunst- und Kulturschaffenden wächst, erlebte Atay, der nach wie vor als Theaterschauspieler tätig ist, 2018. Damals wurde das vom Istanbuler Emek-Theater produzierte Stück "Nur ein Diktator" quasi von einem Tag auf den anderen verboten, nachdem es zuvor drei Jahre lang mit großem Erfolg aufgeführt worden war, auch im Ausland, etwa in München und Hamburg.

Atay spielt in dem Ein-Mann-Stück von Onur Orhan einen Diktator, der mit sich und seinen Untertanen abrechnet und fragt, was das Volk selbst zu seinem Aufstieg beigetragen hat. Das Verbot bestätige, wie nah "Nur ein Diktator" inzwischen an der politischen Realität der Türkei sei, so Atay. Den Beitrag des Volkes zu dieser Entwicklung sieht er im Aufbau eines Führerkults. "Die Menschen werden dadurch zu willigen Untertanen oder sie haben große Angst." Diese Teilung verhindere eine schlagkräftige Opposition.

Dennoch gibt Atay die Hoffnung auf den Widerstand des Volkes nicht auf. Von der Europäischen Union hingegen erwartet er keinerlei Hilfe für sein Land. "Die EU hat sich nie wirklich für die Zustände in der Türkei interessiert, wie viele Journalisten und Oppositionelle hier verhaftet und umgebracht werden", lautet sein bitteres Urteil.

In den Ansagen Brüssels gegenüber Ankara sieht er nicht mehr als "politische Theatralik". Die Türkei diene Europa als Grenzschutz, der Flüchtlingsdeal sei ein "rein sozio-ökonomisches Abkommen". Weil die Menschen, die vor den Kriegen flüchten, für deren Eskalation die EU-Länder und die USA verantwortlich seien – wie aktuell in Afghanistan – eine Bedrohung für die Lebensweise des Westens darstellten. Man muss Atays radikale Sichtweise nicht teilen, um in seiner Analyse viel Wahres zu erkennen.

Das Filmfestival in Nürnberg, bei dem er schon mehrmals war, ist für ihn ein wichtiges Beispiel, wie der Dialog fern der großen Politik funktionieren kann. "Jedes Mal, wenn ich hier bin, lerne ich viel und sammle wichtige Erfahrungen. "Das", sagt Atay, der in seinem Herzen vor allem Schauspieler und Filmkünstler ist, "macht mich sehr glücklich."

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