Blöder Corona-Kackmist: Wie der Lockdown Kinder krank macht

4.2.2021, 12:00 Uhr
Die Folgen der Pandemie: Unseren Kindern geht langsam die Fröhlichkeit verloren. 

© imago stock&people, NN Die Folgen der Pandemie: Unseren Kindern geht langsam die Fröhlichkeit verloren. 

Ich möchte schreien. Mit den Füßen auf den Boden trampeln. Heulen. Oder eine Horde Kinder zum Geburtstag meiner Kleinen einladen. Sie wird neun Jahre alt und ich werde es - natürlich - nicht tun. Ich bin einfach nur so verdammt wütend und verzweifelt. Vor allem aber bin ich hilflos wie ein kleines Kind, das sich nicht verstanden fühlt.

Nelly ist ein aufgewecktes Mädchen, lebendig, lustig. Doch mit jedem weiteren Lockdown-Tag verkriechen sich diese Eigenschaften ein Stückchen tiefer in eine dunkle Höhle. Ihr Temperament schlägt um. Sie wacht auf und hat schlechte Laune, ihre Stimmungsschwankungen nehmen stündlich zu, sie hängt in der einen Sekunde durch und ist in der anderen aufgekratzt wie ein Golden-Retriever-Welpe auf Speed.


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Bevor jetzt RatSCHLÄGE kommen wie: "Sie müssen sich eben mit Ihrem Kind sinnvoll beschäftigen!" oder "Reduzieren Sie die Bildschirmzeit!" oder "Gehen Sie öfter mit ihrem Kind an die frische Luft!" werde ich - ziemlich barsch - erwidern: Das! Tue! Ich! Um dann kurz durchzuatmen und ganz ruhig zu argumentieren:

1. Mein Mann und ich sind berufstätig. Außerdem haben wir noch eine Tochter, sie ist 13. Zumindest unter der Woche hält sich unser Zeit- und Energiebudget in Grenzen, was sinnvolle, also die geistigen und körperlichen Bedürfnisse eines Kindes ausreichend befriedigende Aktionen anbelangt. Vor Corona war Nelly vormittags in der Schule, nachmittags im Hort, war tanzen und im Kindersport.

Gerade habe ich das Tanzen gekündigt, weil es ein von Woche zu Woche zunehmender Kraftakt war, sie vor den Bildschirm zu zerren, um digital zu trainieren. Die Erzieher und Erzieherinnen im Hort haben sich etwas sehr Schönes ausgedacht: Sie bieten den Kindern mehrmals in der Woche digital etwas an. Heute zum Beispiel gemeinsames Stadt-Land-Fluss-Spielen. Sie geben sich Mühe, um die Kinder zu erreichen. Ich erzähle Nelly begeistert davon. Sie zuckt mit den Schultern. "Keine Lust."


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2. Die Bildschirmzeit reduzieren? Da könnte ich nur lachen. Da Sie mich nicht hören: Es ist ein recht geistesgestört klingendes Lachen. Während meine Große nach drei Videounterrichtskonferenzen vor ihrem Laptop einfriert, hat die Kleine das Tablet vor sich. (Wohl dem, der sich diese Ausstattung leisten kann...) Sie hat zweimal in der Woche Videokonferenzen, ansonsten tauchen in ihrem Wochenplan täglich mehrmals Aufträge, Erklärvideos oder Anregungen über Padlet auf (das ist eine Software, die wie eine digitale Pinnwand funktioniert und einfach im Handling ist).

Das sind also ihre Bildschirmpflichten. Zeit für die Bildschirmkür - chatten, spielen, sich was anschauen, also alles, was reinen Spaß macht - ist da noch nicht einberechnet. Kann ich ihr die Kür streichen, weil die vor Corona vereinbarte Bildschirmzeit durch die Pflicht längst überschritten ist? Quatsch! (Wir stecken also inmitten von Phase II des Real-Life-Workshops im Fach Digitaler Unterricht, Titel "Vernünftiger Umgang leicht gemacht". Phase I hieß "So funktioniert die Technik. Oder auch nicht".)


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Und jetzt erzähl ich Ihnen mal ein Beispiel, mit welchen Verwicklungen und Überforderungen man als Eltern plötzlich konfrontiert wird: Nelly hat eine Klassenkameradin, die sich gerade enorm schwer tut. Ihre Mutter ist alleinerziehend, hat drei Kinder, kommt aus der Türkei, arbeitet Schicht. Heute früh schau ich ins Kinderzimmer, Nelly liest laut vor aus einem Buch, das sie gerade in Deutsch besprechen. Ihre Freundin hört über Video zu, bis sie dran ist mit dem Lesen. Ich: Stolz wie sonstwas!

Die Kinder arbeiten zusammen, unterstützen sich gegenseitig, sitzen nicht allein an ihrem Schreibtisch. Kurze Zeit später will ich mich verabschieden, um in die Redaktion zu fahren. Das Tablet liegt vor Nelly, es macht Pingpong-Pling und unzählige Emojis und Sprachnachrichten fliegen im virtuellen Raum hin und her. Die beiden chatten, die Schule ist vergessen.

Was mach ich denn jetzt?

Da stehst du da als Mutter und denkst: Was mach ich jetzt? Das Tablet wegnehmen - und sie noch mehr frustrieren? Sie engmaschiger kontrollieren, was bedeutet, dass ich mehr ins Homeoffice gehe, meine beruflichen Aufgaben zerstückele und auf den frühesten Morgen oder Abend verlege wie viele andere Elternteile, um in Kürze vollends durchzudrehen?

Oder so tun, als hätte ich es nicht gesehen, um beim Heimkommen ein von der Überdosis Digitalisierung einseitig belastetes, unausgeglichenes, miesmuffeliges Kind zu haben, das seine Schulaufgaben schlecht bis gar nicht erledigt hat, was ich ihr dann sagen muss und sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit vollkommen blockiert?

Was ich tatsächlich tat? Ich hab gedroht. "Nelly, du wirst jetzt konzentriert arbeiten, gerne zusammen mit deiner Freundin. Aber wenn das nicht klappt, dann geht es nicht mehr mit ihr zusammen." War das pädagogisch korrekt? Ist. Mir. Egal! Ich musste schnell reagieren, für die Lektüre von fünf Fachaufsätzen und einem Pädagogik-Studium war grad keine Zeit, verdammt!


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3. Stichwort Rausgehen, dazu nur so viel: Ich weiß um die Wichtigkeit der drei Ls - Licht, Luft, Laufen -, wir haben einen kleinen Hund und gehen entsprechend mehrmals täglich an die frische Luft; uns geht es mit Haus und Garten besser, als vielen anderen Familien; wir wohnen in Park- und Waldnähe. Und wir nutzen das auch.

Aber in Summe lässt sich sagen: Egal was wir Erwachsenen mit den Kindern machen, wir sind kein ausreichender Sozialersatz. Je länger der Lockdown dauert, desto mehr Anstrengungen müssen wir investieren, um die Kinder zu was auch immer zu motivieren - dabei schwächeln wir in unserer Rolle als schizophrene Eltern-Berufstätige-Lehrkräfte-Kinder-Kunstfigur doch selbst enorm.

Und egal was wir tun, am nächsten Morgen wachen sie auf wie der Sohn meiner Kollegin, weinen und rufen: "Ich will nicht, ich will nicht!"

Das musste mal raus

Was ich mit all dem sagen will? Ehrlich: Ich weiß es nicht. Vermutlich musste das einfach mal raus. Ich bin keine Lockdown-Kritikerin, ich verstehe Querdenker überhaupt nicht und will keines ihrer verqueren Anliegen mit diesem Text unterstützen. Ich weiß noch nicht mal, ob ich will, dass die Schulen wieder öffnen. Ich will vor allem eines: dass wir dieses fiese Virus in den Griff bekommen!

Mir ist bewusst, dass kein Mensch an der Pandemie schuld ist (oder wir alle). Ich glaube daran, dass die politisch Verantwortlichen nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, und tun sie es nicht, dass die Mittel unserer Demokratie sie in ihre Grenzen weisen.

Ich bin der Meinung, dass es anmaßend, kurzsichtig und ja, verwöhnt ist, schnelle, alle zufriedenstellende Lösungen für ein irre komplexes, unüberschaubares Problem zu verlangen und dass fundierte wissenschaftliche Erkenntnisse Zeit brauchen. Es geht mir auch gar nicht darum zu beweisen, wer der absolute Verlierer der Krise ist. Das hier ist kein Wettkampf. Das ist ernst.

Es geht mir um Mitleid. Nicht für uns Eltern - naja, doch, schon auch ein wenig (in diesem Interview sagt eine Kita-Leiterin, dass auch mal Eltern Kraft tanken müssen).

Aber wir sind erwachsen und könnten für uns selbst kämpfen. Kinder und auch Jugendliche können das nicht. Sie sind den Folgen der Pandemie ungeschützt ausgeliefert. Weil ihnen reflexive Fähigkeiten fehlen, die selbst bei manchen Erwachsenen unterentwickelt sind. Weil sie keine finanzstarke Lobby haben. Weil sie abhängig sind von uns Großen und ihre Zukunft vom Jetzt. Wir als Gesellschaft müssen mehr denn je für sie da sein.

Ich will, dass meine Tochter wieder mehr lacht.


Der Kinderschutzbund Nürnberg hat eine Seite eingerichtet, über die Kinder und Jugendliche ihre Meinung sagen können.


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