Corona: Suche nach den Schuldigen

28.5.2020, 12:08 Uhr
Auch in Nürnberg gab es Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen. 

© Foto: Philip Hauck Auch in Nürnberg gab es Demonstrationen gegen die Corona-Beschränkungen. 

Die sogenannten Anti-Hygiene-Demos, die in den vergangenen Wochen in vielen deutschen Städten stattfanden, haben ein großes öffentliches Echo hervorgerufen. Dies ist bemerkenswert, da es sich hier keineswegs um eine Massenbewegung handelt. Bei der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung ist das Vertrauen in die Regierung und auch das Vertrauen in die Wissenschaft – dies zeigen aktuelle Umfragen – derzeit so hoch wie selten zuvor.


Neumarkter demonstrieren gegen Corona-Maßnahmen


So ist es einer relativ überschaubaren Gruppe von Protestierenden mit relativ wenig Aufwand gelungen, eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit zu generieren. Ein Grund für das starke öffentliche Interesse ist sicher die erhöhte Sensibilität für jede Art von Protest nach der Phase des Lockdowns. Für Aufsehen erregen jedoch vor allem die irritierenden Verschwörungsbotschaften von Teilen der Protestgemeinde, die schrillen Auftritte eines leidlich prominenten Vegankochs vor dem Berliner Reichstag und die seltsam entrückten politischen Parolen von einigen neuen selbsternannten "Querdenkern".

Protest lebt von körperlicher Nähe, von Lärm und von der Provokation

Angesichts dieser Bilder drängt sich die Frage auf, um was es bei diesen Protesten eigentlich geht: Geht es tatsächlich um die viel beschworenen "Bürgerrechte" oder um ganz andere politische Motive? Auch drängt sich die Frage auf, ob die starke öffentliche Fokussierung auf die extremen Auswüchse der Demonstrationen tatsächlich verhältnismäßig ist – um in diesem Kontext ein aktuell viel zitiertes Wort zu bemühen.

 Sebastian Büttner, Jahrgang 1978, ist Privatdozent am Institut für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg. Seine Lehr- und Forschungsgebiete umfassen unter anderem die Kultur- und Wissenssoziologie, Politische Soziologie, Soziologische Theorie und Europasoziologie.

 Sebastian Büttner, Jahrgang 1978, ist Privatdozent am Institut für Soziologie an der Friedrich-Alexander-Universität (FAU) Erlangen-Nürnberg. Seine Lehr- und Forschungsgebiete umfassen unter anderem die Kultur- und Wissenssoziologie, Politische Soziologie, Soziologische Theorie und Europasoziologie. © Foto: Glasow-Fotografie

Man muss sich sicher nicht mit jeder versprengten Botschaft der Proteste auseinandersetzen. Auch sollte man nicht in jede Protestbewegung vorschnell den Beginn einer großen politischen Transformation hineininterpretieren. Doch die Ansammlung unterschiedlicher Gruppierungen, die Art der Inszenierung, die Aufheizung der Debatte sind Symptome einer neuen Protestkultur, der es auf den Zahn zu fühlen gilt.

Zunächst ist jedoch festzuhalten: Die Organisation von Protest in Zeiten von Corona ist – wie derzeit alles im öffentlichen Leben – wahrlich nicht leicht. Protest lebt von der Zusammenballung. Er lebt von der körperlichen Nähe und von der Sichtbarkeit im öffentlichen Raum. Er lebt vom Lärm und von der Provokation, und, ja, auch von der gezielten Grenzüberschreitung.

All dies ist unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht möglich, ohne gegen die strengen Vorschriften zur Einhaltung der Abstandsregeln und weitere Beschränkungen zu verstoßen. Dies ist ein Drahtseilakt für alle Beteiligten: für die Protestierenden, aber auch für die Behörden und die Polizei. Selbstverständlich muss es möglich sein, seinen Unmut über diese Maßnahmen öffentlich zu äußern und gegen die Einschränkungen der Bürgerrechte zu demonstrieren, ohne sofort als unsolidarisch, als Abweichler oder gar als Verschwörungstheoretiker abgestempelt zu werden. Diese Differenzierung geht in der öffentlichen Auseinandersetzung mit den Corona-Demonstrationen zuweilen verloren.

Für große Irritationen sorgen aber vor allem die abstrusen Botschaften (etwa "Gates, der große Weltverschwörer", "Merkel-Diktatur", "Zwangsimpfungen") und das aggressive Auftreten von vielen Protestierenden. Auch die eigentümlichen Koalitionen zwischen sehr unterschiedlichen Gruppen erstaunen: Besorgte Eltern und neue Bürgerrechts- und Widerstandsbewegungen stehen häufig Seite an Seite mit eingefleischten Impfgegnern, neuen rechten Querdenkern, Reichsbürger/innen und Verschwörungsanhängern unterschiedlicher Art.

Manche Kommentatoren und Beobachter fragen sich daher besorgt, ob sich hier eine neue rechte Protestbewegung formiert und weiter in die Mitte der Gesellschaft vordringt. Denn es werden die gleichen Hassparolen gegen Politiker, "das System" und "die Systempresse" skandiert, die man seit Jahren von den Demonstrationen gegen die Flüchtlingspolitik kennt.

Viele der geäußerten Verschwörungsnarrationen erinnern an längst vergangene Zeiten: etwa an das apokalyptische Eiferertum der Wiedertäufer aus dem 16. Jahrhundert oder an die hanebüchenen, jedoch immer gleichen Mythen einer jüdischen oder sonst wie gearteten (Welt-)Verschwörung. Dies irritiert, provoziert und macht fassungslos, vor allem wenn diese Thesen zunehmend in Familienchats, Freundeskreisen und alltäglichen Netzwerken kursieren und von Menschen vorgetragen werden, die man eigentlich für vernünftig hält.

Doch mit Kategorien wie Vernunft, Logik, Faktenwissen oder gar der Überzeugungskraft des besseren Arguments kommt man hier meist nur bedingt weiter.

Um zu verstehen, warum manche Menschen wider besseres Wissen und entgegen allen Plausibilitäten an Verschwörungstheorien und fantastische Weltdeutungen glauben, muss man zunächst versuchen nachzuvollziehen, dass es hier in der Regel nicht um Plausibilitäten und schon gar nicht um Offenheit für Argumente geht. Meist geht es um ein Überzeugt-Sein, um ein Besser-Wissen und um ein Dagegen-Sein-Wollen – notfalls um jeden Preis.

Dem Verschwörungsdenken liegt jedoch nicht nur Unwissenheit und mangelnde Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Informationen zugrunde. Man findet gerade in verschwörungsaffinen Milieus eine besondere Sehnsucht nach Sicherheit, nach Gewissheit und der "eigentlichen Wahrheit" vor. Dieses Bedürfnis wächst, wenn "nichts mehr sicher" scheint, wenn man das Gefühl hat, dass man sich auf "nichts" verlassen kann oder dass etwas ganz grundlegend "falsch" läuft.

Es ist kein Zufall, dass gesellschaftliche Krisenzeiten stets auch Boom-Zeiten für Verschwörungstheorien und neue politische Erweckungsbewegungen sind. Wir beobachten derzeit in vielen Ländern eine massive Aufheizung der politischen Debatte und eine Verschärfung politischer Proteste: Man denke etwa an die Gelbwesten-Bewegung in Frankreich, die Brexit-Proteste in Großbritannien und den Aufschwung von rechtspopulistischen Parteien in vielen Ländern Europas und weltweit.

Die Gründe für diese Entwicklungen sind äußerst vielfältig. Sie speisen sich aus der Wahrnehmung von fundamentalen politischen und gesellschaftlichen Fehlentwicklungen. Sie haben zu tun mit Deprivationserfahrungen, mit dem Gefühl des Abgehängtseins oder Abgehängtwerdens und mit einem wachsenden Unbehagen an den Regeln und Gesetzmäßigkeiten unseres Wirtschaftssystems. Das Unbehagen wird zusätzlich durch neue Erregungsmuster und Erregungsgemeinschaften in digitalen Medien befeuert.

Dies hat der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in seinem Buch "Die große Gereiztheit" treffend herausgearbeitet. Durch die Unmittelbarkeit und Geschwindigkeit digitaler Medienkommunikation, so Pörksen, verbreiten sich Gerüchte, Halb- und Unwahrheiten und gezielte Falschinformationen wie Lauffeuer. Es bilden sich neue "Parallelöffentlichkeiten, Protestgemeinschaften und Selbstbestätigungsmilieus, in denen Falschinformationen schnell zu gefühlten Realitäten" werden.

Es geht häufig um ein Besser-Wissen — notfalls um jeden Preis

Unter den aktuellen Informationsbedingungen schwinde zunehmend die Fähigkeit zur Unterscheidung von wahren und falschen Fakten.

Die Informationsbasis vieler heutiger Protestler bilden zumeist "alternative Deutungen", die in selbsternannten "alternativen" und "freien" Medien zirkulieren und von Self-Made-Aufklärern und Apokalyptikern auf YouTube, Instagram oder Telegram verbreitet werden. Mit der Digitalisierung erlebt dieses Feld einen enormen Aufschwung.

Die neuen Medien bieten den neuen Welterklärern und Propagandisten eine riesige Bühne. Nie war es so einfach, mit relativ wenig Aufwand Inhalte aller Art zu produzieren und mit ebenso geringem Aufwand ein riesiges Potenzial an Reichweite und Aufmerksamkeit zu generieren – und dabei ganz nebenbei allein mit Klicks und Likes Geld zu verdienen.

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die gezielte Ansprache und Mobilisierung der verschwörungsaffinen Milieus durch neue rechte und rechtspopulistische Bewegungen. Dies ist eine Entwicklung, die in den USA in der sogenannten Alt Right-Bewegung ihren Ausgang genommen hat und die nicht zuletzt auch Donald Trump ins Weiße Haus katapultierte.

Es ist kein Zufall, dass Trump unablässig mit der gezielten Verbreitung von Lügen und Halbwahrheiten, mit der pauschalisierenden Diffamierung des "Establishments" und mit Kritik an der "Mainstream"-Presse erfolgreich Politik betreibt.Er bedient damit die eingeübten Rituale und Reflexe seiner Anhänger, nicht zuletzt auch mit Anspielungen auf die Q-Verschwörungsnarration, der Erfindung einer angeblichen Geheimregierung in den USA, die auch bei vielen "Querdenkern" der Corona-Demonstrationen eine tragende Rolle spielt. Spätestens an diesem Punkt sollte klar sein, warum es durchaus wichtig ist, sich mit manchen Begleiterscheinungen der Corona-Demonstrationen genauer auseinander zu setzen.


Hier finden Sie täglich aktualisiert die Zahl der Corona-Infizierten in der Region. Die weltweiten Fallzahlen können Sie an dieser Stelle abrufen. Über aktuelle Entwicklungen in der Corona-Krise


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