Der aufgeblähte Bundestag: Abgeordnete in eigener Sache überfordert

4.5.2021, 05:55 Uhr
598 Abgeordnete ziehen laut Grundgesetz in den Berliner Reichstag ein. In der Praxis sind es jedoch weitaus mehr. Alle Bemühungen, dies nachhaltig zu ändern, sind bislang gescheitert.

© Kay Nietfeld, NNZ 598 Abgeordnete ziehen laut Grundgesetz in den Berliner Reichstag ein. In der Praxis sind es jedoch weitaus mehr. Alle Bemühungen, dies nachhaltig zu ändern, sind bislang gescheitert.

Norbert Lammert und Wolfgang Schäuble sind zwei große Namen in der Geschichte des Deutschen Bundestags. Lammert war zwölf Jahre lang Parlamentspräsident, sein Nachfolger Schäuble ist es seit vier Jahren. Letzterer wird im kommenden Jahr sogar sein 50-jähriges Jubiläum als Abgeordneter feiern. Mehr Erfahrung als die beiden Christdemokraten kann man kaum haben. Und trotzdem sind sie mit einem ihrer wichtigsten Projekte grandios gescheitert: der Verkleinerung des Bundestags.


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Beide Präsidenten hatten ihre Erfolgsbilanz mit dem Gelingen dieser Reform verknüpft. Sie haben das Gewicht ihres Amtes in die Waagschale geworfen. Sie haben erklärt. Sie haben gewarnt. Sie haben gedroht. Alles nur, um das schier endlose Wachstum des Parlaments zu bremsen. Geholfen hat es nichts, oder bestenfalls sehr wenig.

Es ist letztlich ein Fehler im System, der zu dem Problem geführt hat. Die für Deutschland typische Mischung aus Direkt- und Listenmandaten führt seit Jahren zu immer mehr Abgeordneten, da Missverhältnisse zwischen den Erst- und Zweitstimmergebnissen auf komplizierte Weise mit zusätzlichen Mandaten ausgeglichen werden müssen. Unter gewissen Voraussetzungen ist dieses Wachstum kaum zu bremsen. Aktuell ist die Zahl der eigentlich vorgesehenen 598 Parlamentsmitglieder um mehr als 30 Prozent überschritten.

Natürlich wäre das System reformierbar. Dazu gibt es inzwischen zahlreiche Vorschläge. Doch egal, wo man ansetzt, stets würde eine Parteiengruppe Einbußen an Mandanten erleiden. Mal sind es diejenigen, die viele Direktmandate erwarten dürfen. Bisher war das im Regelfall die Union. Mal wären diejenigen Parteien schlechter bedient, die ausschließlich über die Listenkandidatinnen und -kandidaten in den Bundestag einziehen.

Gezerre seit über zehn Jahren

Das Gezerre zwischen den beiden Gruppen ist seit weit über zehn Jahren zu beobachten. Man wirft sich gegenseitig vor, gar nicht an einer vernünftigen Lösung interessiert zu sein - und hat vor einigen Monaten, quasi in letzter Sekunde - eine halbgare Lösung gefunden. Wieder einmal ist die eigentlich längst fällige spürbare Veränderung auf die nächste Legislaturperiode verschoben worden.

Wenn der Bundestag ab September 2021 nicht so groß wird wie von manchen befürchtet, dann dürfte das ausschließlich am veränderten Wahlverhalten der Bevölkerung liegen, zum Beispiel an den gestiegenen Direktmandaten für die Grünen. Ein Erfolg der Reformbemühungen wäre es nicht.

Die Verkleinerung ist jedoch ein ernsthaftes Anliegen. Dabei geht es nämlich nicht nur um Millionenkosten an Diäten, Personalkosten und Sachaufwand für die zusätzlichen Abgeordneten. Fast noch schlimmer ist die Tatsache, dass die Arbeitsfähigkeit des Parlaments bedroht ist. Wenn sich die Politiker(innen) im Plenum und in den Ausschüssen gegenseitig auf die Füße treten, werden die Debatten und die daraus folgenden Gesetze nicht gehaltvoller.

Letzte Hoffnung Karlsruhe

Die letzte Hoffnung angesichts der Reformunfähigkeit des Bundestages ist, schon wieder einmal, das Bundesverfassungsgericht. Karlsruhe kann zwar das Wahlrecht nicht neu schreiben, aber über Einzelentscheidungen den richtigen Weg aufzeigen. In einigen Jahren wissen wir dann mehr.

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