Ethikrat fordert: Alle Corona-Maßnahmen ständig überprüfen

29.3.2020, 10:31 Uhr
Entwarf das Papier von seinem Homeoffice in Fürth aus in enger Abstimmung mit den anderen Mitgliedern des Ethikrats: Peter Dabrock.

© Deutscher Ethikrat/R.Zensen, NN Entwarf das Papier von seinem Homeoffice in Fürth aus in enger Abstimmung mit den anderen Mitgliedern des Ethikrats: Peter Dabrock.

Vor einer Woche rief Gesundheitsminister Jens Spahn bei Peter Dabrock an, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrats. Spahn wünschte sich Empfehlungen der Wissenschaftler für den Umgang mit der Krise. Der Erlanger Theologieprofessor koordinierte darauf von seinem Homeoffice in der Fürther Altstadt aus ein Papier, das nun vorliegt. Und sehr detailliert Vorschläge macht, was das Land tun könnte und sollte in Zeiten von Corona.

So beginnt der Text, den der Ethikrat vorgelegt hat: "Die gegenwärtige Pandemie fordert unsere Gesellschaft in beispielloser Form heraus und führt zu schwerwiegenden ethischen Konflikten. Der Deutsche Ethikrat befürwortet die aktuell zur Eindämmung der Infektionen ergriffenen Maßnahmen, auch wenn sie allen Menschen in diesem Land große Opfer abverlangen. Freiheitsbeschränkungen müssen jedoch kontinuierlich mit Blick auf die vielfältigen sozialen und ökonomischen Folgelasten geprüft und möglichst bald schrittweise gelockert werden.

Für diesen schwierigen Abwägungsprozess will der Ethikrat mit seiner Ad-hoc-Empfehlung 'Solidarität und Verantwortung in der Corona-Krise' ebenso ethische Orientierungshilfe leisten wie für die im Gesundheitssystem drohenden dramatischen Handlungs- und Entscheidungssituationen."

Dabrock verbrachte die vergangene Woche vor allem mit dem Abstimmen und Ausformulieren der Empfehlungen des Gremiums, das aus 26 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen besteht. Zu den Chancen und Risiken der Krise äußert der Ethik-Experte: "In dieser Krise ungekannten Ausmaßes können wir uns glücklich schätzen, so große Solidaritätsressourcen in unserer Gesellschaft zu besitzen. Wir müssen aber ehrlich sein: Auch mit diesen Ressourcen gilt es sorgsam umzugehen und Spannungen zwischen unterschiedlichen Ansprüchen bedürftiger Gruppen fair auszuhandeln."

Prüfen, wie lange die Gesellschaft das verkraften kann

In dem Papier spricht der Ethikrat auch sehr offen die Frage an, wie lange denn der aktuelle Ausnahmezustand ausgehalten werden könne - und macht deutlich, dass die Maßnahmen, die aktuell zum Beinahe-Stillstand des Landes führen, immer wieder überprüft werden müssten: "Der ethische Kernkonflikt besteht darin, dass ein dauerhaft hochwertiges, leistungsfähiges Gesundheitssystem gesichert werden muss und zugleich schwerwiegende Nebenfolgen für Bevölkerung und Gesellschaft möglichst gering zu halten sind. Das erfordert eine gerechte Abwägung konkurrierender moralischer Güter, die auch Grundprinzipien von Solidarität und Verantwortung einbezieht und sorgfältig prüft, in welchem Ausmaß und wie lange eine Gesellschaft starke Einschränkungen ihres Alltagslebens verkraften kann."

Sehr deutlich warnt der Ethikrat davor, nun eine Art "Herrschaft der Virologen" zu etablieren. Deren Expertise sei wichtig. Aber es sei auch und gerade in Zeiten der Krise Sache der Politik, im Rahmen der Demokratie Entscheidungen herbeizuführen: " Es widerspräche dem Grundgedanken demokratischer Legitimation, politische Entscheidungen an die Wissenschaft zu delegieren und von ihr eindeutige Handlungsanweisungen für das politische System zu verlangen. Gerade schmerzhafte Entscheidungen müssen von den Organen getroffen werden, die hierfür durch das Volk mandatiert sind und dementsprechend auch in politischer Verantwortung stehen. Die Corona-Krise ist die Stunde der demokratisch legimitierten Politik."

Wer soll vorrangig behandelt werden?

In seinen Empfehlungen geht der Ethikrat auch auf ethische Dilemmatta ein - wer soll bei medizinischen Engpässen vorrangig behandelt werden? Dazu heißt es: "Wesentlicher Orientierungspunkt für die nahe Zukunft ist die weitgehende Vermeidung von Triage-Situationen, in denen Ärzte zu entscheiden gezwungen wären, wer vorrangig intensivmedizinische Versorgung erhalten und wer nachrangig behandelt werden soll. Der Staat darf menschliches Leben nicht bewerten und deshalb auch nicht vorschreiben, welches Leben in einer Konfliktsituation zu retten ist. Die Verantwortung, in solchen dilemmatischen Situationen katastrophaler Knappheit medizinischer Ressourcen über Leben und Tod zu entscheiden, sollte aber auch keinesfalls allein den einzelnen Ärztinnen und Ärzten aufgebürdet werden. Schon aus Gründen der Gleichbehandlung, aber auch um der allgemeinen Akzeptanz willen bedarf es vielmehr weithin einheitlicher Handlungsmaximen für den klinischen Ernstfall nach wohlüberlegten, begründeten und transparenten Kriterien. Hierzu sind bereits erste Empfehlungen medizinischer Fachgesellschaften erschienen."

"Geordnete Rückkehr prüfen"

Das Gremium begrüßt zwar die aktuellen Ausgangsbeschränkungen und Sanktionen, weist aber auch auf deren Risiken hin und mahnt Exit-Strategien an, wie sie auch von Politikern und Wirtschaftsführern debattiert und teils eingefordert werden. Im Papier heißt es: "Zugleich gilt es, die aktuellen freiheitsbeschränkenden Infektionsschutzmaßnahmen fortlaufend kritisch zu evaluieren. Dem Ziel, die Ausbreitung des Coronavirus erheblich zu verlangsamen, muss zwar auch aus Sicht des Deutschen Ethikrates derzeit die größte Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dabei ist jedoch auch jetzt schon die mittel- und langfristig bedeutsame Frage in den Blick zu nehmen, unter welchen Voraussetzungen und auf welche Weise eine geordnete Rückkehr zu einem einigermaßen "normalen" gesellschaftlichen und privaten Leben sowie zu regulären wirtschaftlichen Aktivitäten erfolgen kann, um die ökonomischen, kulturellen, politischen und psychosozialen Schäden möglichst gering zu halten."

Hier finden Sie das Papier im Wortlaut.


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