Intensivversorgung

Experten-Kritik an Intensivversorgung: Der Faktencheck

20.5.2021, 20:50 Uhr
Das Beschäftigungswachstum in der Pflege hat zwar an Dynamik verloren - trotzdem wurden hier anders als bei der Gesamtbeschäftigung auch im Jahr 2020 deutliche Zuwächse verzeichnet.

© Christophe Gateau, NNZ Das Beschäftigungswachstum in der Pflege hat zwar an Dynamik verloren - trotzdem wurden hier anders als bei der Gesamtbeschäftigung auch im Jahr 2020 deutliche Zuwächse verzeichnet.

Aufstockung von Pflegekräften

43.000 neue Pflegekräfte im Jahr 2020, und das, obwohl in der öffentlichen Diskussion von Personalabbau die Rede ist: Der Vorwurf, den eine “Stellungnahme” aufwirft, die zehn Experten um den Gesundheitsökonomen und Internisten Matthias Schrappe verfasst haben, birgt einiges an Brisanz. Schrappe war von 2007 bis 2011 stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit und zählt zu den scharfen Kritikern der deutschen Corona-Politik.

Die Bundesagentur für Arbeit bekräftigt den von den Experten angegebenen Zuwachs an Pflegekräften. "Wir bestätigen diese Zahl", heißt es auf Anfrage. “Zwischen Januar und Oktober 2020 lag die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in jedem Monat über dem Niveau des Vorjahresmonats. Ab August stieg die Beschäftigung umso stärker an. Von Oktober 2019 zu Oktober 2020 liegt das Beschäftigtenplus bei rund 43.000."


In Bayern: Wie steht es um die Auslastung der Intensivbetten?


Insgesamt, so heißt es in einem von der Bundesbehörde herausgegebenen "Blickpunkt Arbeitsmarkt Arbeitsmarktsituation im Pflegebereich", habe das Beschäftigungswachstum in der Pflege zwar an Dynamik verloren - doch wurden hier anders als bei der Gesamtbeschäftigung auch im Jahr 2020 deutliche Zuwächse verzeichnet. "Diese wurden zuletzt wieder etwas größer."

Allerdings liegen der Bundesagentur keine Daten darüber vor, wie sich die 43.000 zusätzlichen Kräfte auf die einzelnen Pflege-Sparten aufteilen, also ob es sich beispielsweise um Altenpfleger oder Intensivkräfte handelt. Auch das Bundesgesundheitsministerium konnte hierzu keine Auskunft geben.

Die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) reagierte bislang nicht auf eine konkrete Nachfrage, in einer allgemeinen Stellungnahme des Verbandes zu dem Expertenpapier heißt es: "Dass diese Intensivplätze nicht flächendeckend mit hochqualifiziertem Pflegepersonal betrieben werden konnten, war allen bewusst. Tatsächlich haben aber in allen Bundesländern Kurzlehrgänge stattgefunden, in denen Pflegekräfte auch ohne Intensivpflegefortbildung auf die Versorgung von Beatmungspatienten vorbereitet wurden. Die Krankenhäuser wären somit in der Lage gewesen auch die sogenannte Intensivbetten-Notfallreserve zu betreiben."

Doch warum ist dann in der öffentlichen Diskussion so häufig von Personalmangel die Rede? Der Gesundheitsökonom Reinhard Busse von der TU Berlin, der schon vor der Corona-Pandemie zu den Kritikern des deutschen Gesundheitssystems gehörte, sagt: "Deutschland verfügt über prozentual viel Krankenhauspersonal, belegt in der EU Platz zwei hinter Finnland."

Anhand eines Beispiels erklärt er, wie es häufig zu einer verzerrten Außendarstellung kommen kann: “Angenommen, Sie haben eine Intensivstation mit 20 Betten und da liegen 10 Patienten. Für wie viele Betten würden Sie als Planer Pflegepersonal kommen lassen an dem Tag? Vielleicht für 13. Und dann melden Sie ans DIVI-Register, dass 10 Plätze belegt sind, drei frei und sieben in Reserve.

Ob die restlichen Betten nun nicht betreibbar seien, weil man grundsätzlich kein Personal dafür finde, oder eben, weil es an diesem Tag nicht eingesetzt werde, könne man anhand der Zahl der gemeldeten Betten nicht nachvollziehen.

Experten-Kritik an Intensivversorgung: Der Faktencheck

Höchste Hospitalisierungsrate weltweit?

Ein weiterer Kritikpunkt, der in dem Papier aufgeworfen wird: In keinem anderen Land der Welt sei der Anteil an Covid-Patienten, die auf Intensivstationen behandelt würden, so hoch wie in Deutschland. 58 Prozent der hospitalisierten Covid-19-Patienten sollen hier Ende April auf Intensivstationen behandelt worden sein, während dies nur auf 25 Prozent der Patienten in der Schweiz oder 11 Prozent der Patienten in Italien zutraf.

Thomas Wieland von der Uni Karlsruhe hat zwei Paper zu corona-spezifischen Daten veröffentlicht und ist seit Jahren in der Versorgungsforschung tätig, unter anderem auch in einer Arbeitsgruppe zum Thema Krankenhausversorgung. Er erklärt, was das Problem an Schrappes Berechnungen ist: "In der Bundesrepublik werden keine verlässlichen Zahlen dazu erhoben, wie viele gemeldete Infizierte überhaupt hospitalisiert werden. In den Daten vom RKI zu klinischen Aspekten finden sich bei den gemeldeten Fällen seit Jahresbeginn nur für etwa 70 bis 80 Prozent Angaben dazu, ob die betroffenen Personen in ein Krankenhaus kamen."

Auf Nachfrage erklärt Schrappe, man habe die Zahlen der DIVI zur täglichen Intensivauslastung mit den RKI-Daten verglichen, bei denen Angaben zur Hospitalisierung gemacht wurden und daraus dann Hochrechnungen erstellt.

Diese Berechnungen können aber keine stichgenauen Erkenntnisse liefern, denn die zugrunde gelegten Intensivzahlen der DIVI seien Echtzeit-Tageswerte, während sich die RKI-Daten auf ganze Kalenderwochen beziehen, die zudem einem Meldeverzug unterworfen sind, der regional schwankt. So gesehen ist es anhand der aktuellen Datenlage in Deutschland schwierig, den Anteil von Intensivfällen an allen Hospitalisierten exakt zu bestimmen.

Auch Busse von der TU Berlin hat mit den verfügbaren Daten Berechnungen angestellt. Er sieht damit die grundsätzliche Einordnung, in Deutschland würden überproportional viele Erkrankte auf Intensivstationen landen, teilweise bestätigt. Der Wissenschaftler hat hierfür Daten des Instituts für das Entgeltsystem im Krankenhaus (InEK) mit Daten aus anderen Ländern verglichen.

Seinen Berechnungen zufolge wurden in der ersten Welle (März bis Mai 2020) in Deutschland 6 Prozent aller positiv Getesteten auf eine Intensivstation eingeliefert. Dieser Wert war ebenso hoch in den Niederlanden und etwas höher als in Spanien (5 Prozent), Großbritannien (4 Prozent) oder Dänemark (3%). In der zweiten Welle (Oktober bis Dezember 2020) war der Wert in Deutschland zwar deutlich auf 1,6 Prozent gesunken - noch deutlich weniger waren es aber in den anderen Ländern: in den Niederlanden und Großbritannien 0,5, in Spanien 0,4 Prozent und in Dänemark 0,3 Prozent.

Thomas Wieland von der Uni Karlsruhe hat Daten aus dem DIVI-Register ausgewertet und die Peaks der zweiten und dritten Welle, den tiefsten Punkt dazwischen und den heutigen Stand verglichen.

Thomas Wieland von der Uni Karlsruhe hat Daten aus dem DIVI-Register ausgewertet und die Peaks der zweiten und dritten Welle, den tiefsten Punkt dazwischen und den heutigen Stand verglichen. © Thomas Wieland, Uni Karlsruhe.

Finanzielle Anreize für Verlegungen?

Die Schlussfolgerung der Expertengruppe um Schrappe: “Offensichtlich stellt man in Deutschland die Indikation zur Intensivbehandlung von Covid19-Patienten deutlich schneller als in anderen Ländern.” Fakt ist: Deutschland verfügt über deutlich mehr Intensivbetten als alle anderen Länder. Pro 100.000 Einwohner sind es bei uns dreimal mehr als in Frankreich und mehr als doppelt so viele wie in der Schweiz.

Die DIVI weist den Vorwurf, man würde finanzielle Anreize ausnutzen, um unnötige viele Menschen auf Intensiv zu verlegen, in ihrer Stellungnahme zurück, bezeichnet ihn als einen “Schlag ins Gesicht der Ärztinnen und Ärzte und der Pflegekräfte in den Krankenhäusern”, die in den vergangenen Monaten unter höchster Belastung große Leistungen vollbracht und viele Leben gerettet hätten. Auch Gesundheitsökonom Busse interpretiert die hohe Intensivquote anders als die Schrappe-Experten.

Eine Intensiv-Belegung würde per se ja erstmal nicht besser bezahlt und mehr Geld fließe erst bei bestimmten Behandlungen wie einer Beatmung, die wiederum nicht bei allen intensiv-verbrachten Fällen eingesetzt werde. Er sieht den Grund an anderer Stelle: “Wir haben das perverse System, dass wir insgesamt extrem viele Krankenhausbetten haben. Jeder, der auf Deutschland guckt fragt: Was machen die Deutschen ständig im Krankenhaus?" Natürlich, so Busse, müssten die Krankenhäuser ihre Betten füllen, das sei schon aus rein wirtschaftlicher Sicht nachvollziehbar und habe nichts speziell mit Covid zu tun.

Durch die hohen Patientenzahlen käme auf jedes belegte Bett relativ wenig Pflegepersonal, so dass Patienten zur kontinuierlichen Beobachtung auf Intensivstationen verlegt würden, die in anderen Ländern wegen der bei deutlich niedrigeren Belegungen besseren Pflegepersonal-zu-Patienten-Schlüssel auf Normalstation zur Beobachtung blieben.

Hinzu kommt, dass auch die DIVI-Datenerfassung keine allzu genauen Schlüsse darüber zulässt, wie viele Menschen überhaupt auf den Intensivstationen behandelt worden sind. Dies zeigt ein Vergleich zwischen den im Register erfassten Zahlen und der Zahl der von den Krankenhäusern abgerechneten Fällen. Im DIVI-Register werden wesentlich mehr Fälle berichtet als über die Krankenkassen abgerechnet werden. (im Jahr 2020 betrug der Unterschied fast 30 Prozent). Der Grund hierfür: Mehrfachzählungen.

Busse erklärt: "Das DIVI-Register zählt den Patienten, der in einem Krankenhaus neu auf eine Intensivstation kommt. Wenn dieser Patient dann wieder auf eine Normalstation kommt und dann wieder auf Intensiv, wird er nochmal gezählt." Das gleiche gelte, wenn er von einer Intensivstation in diejenige eines anderen Krankenhauses verlegt werde, was recht häufig vorkomme. "Insofern ist das DIVI-Register mit Sicherheit eine Überschätzung. Das ist keine Zahl, die man bevölkerungsmedizinisch interpretieren sollte."

Die Tatsache, dass ein Hin- und Herschieben der Patienten zwischen den Stationen nicht im Detail nachvollzogen werden kann, bietet aber durchaus Raum für Spekulationen über mögliche Manipulation. Denn seitdem das Krankenhausentlastungsgesetz im November 2020 in Kraft trat, zeigt sich bei regionaler Betrachtung vieler Kreise, dass Intensivkapazitäten abrupt teils stark zurückgefahren wurden. Kritiker führen das darauf zurück, dass mit dem Gesetz eine Regelung in Kraft trat, die zu eben dieser Praxis einlud, indem es eine Sonderzahlung für den Fall vorsah, dass mindestens 75 Prozent der Intensivstationen eines Landkreises belegt sind.

Gelder abgerufen, aber nie verwendet?

Insgesamt sind im vergangenen Jahr mehr als 10 Milliarden Euro Fördermittel als Ausgleichszahlungen für Einnahmeausfälle der Krankenhäuser geflossen. Der Vorwurf im Expertenpapier: Die Gelder sollen zwar abgerufen aber nie verwendet worden sein. Die DIVI weist diesen Punkt entschieden zurück. "Die Behauptung, die Krankenhäuser hätten zu Unrecht Fördergeld für nie aufgebaute Intensivbetten kassiert, ist nicht haltbar."

Auch Gesundheitsökonom Busse hält diesen Punkt für nicht haltbar. Krankenhäuser hätten den Großteil der Gelder dafür bekommen, dass sie Betten freigehalten hätten und müssten auch in anderen Fällen nicht nachweisen, wofür sie Zahlungen im Detail verwendeten. Allerdings schränkt er ein: “Bei den 600 Millionen für die zusätzlichen Intensivbetten hätte man natürlich schon sagen können, dass hierfür eine konkrete Gegenleistung hätte erfolgen müssen, etwa das Vorhalten eines betreibbaren und mit Personal ausgestatteten Bettes."

Das Krankenhausentlastungsgesetz trat zu Beginn der Pandemie in Kraft und sicherte den Krankenhäusern für jedes zusätzlich geschaffene Intensivbett eine pauschale Vergütung von 50.000 Euro zu.

Wurden Daten wurden nachträglich manipuliert?

Gemeldete Intensivbetten, so der Vorwurf der Expertengruppe, sollen im Nachhinein manipuliert worden sein. Die zunächst angegebenen 34.000 verfügbaren Intensivbetten, heißt es im Papier, wurden ab März auf 30.000 herunterkorrigiert.

Hier ist den Wissenschaftlern um Schrappe allerdings ein Fehler unterlaufen: Im März dieses Jahres wurden knapp 3000 Kinderbetten aus den Gesamt-Berechnungen nachträglich herausgerechnet, was die DIVI zu jenem Zeitpunkt klar kommuniziert hat. In den Gesamtzahlen fehlen die Kinderbetten ab dem 23. Dezember. Außerdem gab es mehrfach Veränderungen im Pflegeschlüssel, weshalb den Betten unterschiedlich viel Personal zugerechnet wird.

DIVI meldet jedoch mittlerweile nur wirklich “betreibbare” Betten, also solche, für die auch Personal zur Verfügung steht. Inzwischen haben die Wissenschaftler diesen Fehler auch eingeräumt und eine Klarstellung in ihre Stellungnahme eingebaut.

Verwandte Themen