FAU-Historiker Sirois: "Amerika ist politisch zerstört"

4.11.2020, 09:50 Uhr
Protest in der Wahlnacht: In Portland wurde auch das Sternenbanner angezündet.

© Marcio Jose Sanchez, dpa Protest in der Wahlnacht: In Portland wurde auch das Sternenbanner angezündet.

Herr Dr. Sirois, es ist passiert, was viele befürchtet haben: Donald Trump hat sich vorzeitig zum Sieger erklärt und wirft den Demokraten vor, die Wahl stehlen zu wollen. Wird aus dem vielzitierten kalten Bürgerkrieg in den USA nun ein heißer?

Herbert Sirois: Diese Polarisierung, diese Form der Auseinandersetzung hat es zuletzt bei der Wahl von Abraham Lincoln gegeben, die das Land dann in den Bürgerkrieg getrieben hat. Aber ich will jetzt nicht zu denen gehören, die einen zweiten Bürgerkrieg an die Wand malen. Aber ja, es wird Unruhen geben. Amerika ist politisch zerstört.

Inwiefern?

Herbert Sirois: Die USA haben einen Präsidenten, der den demokratischen Prozess faktisch nicht anerkennt. Sie haben eine Gesellschaft, die enorm gespalten ist, auch weil Trump diese Spaltung vorangetrieben hat, obwohl die Verfassung den Präsidenten in einer Rolle des Moderators im politischen System sieht. Und nun sieht es so aus, als ob es in Regierung, Repräsentantenhaus und Senat unterschiedliche Mehrheiten gibt. Damit werden die USA als internationaler politischer Akteur für die nächsten Jahre ausfallen. Dass Norbert Röttgen, immerhin Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, nun erklärt, Deutschland sei auf vier weitere Jahre Trump nicht vorbereitet, ist einfach nur erschreckend.

Wann wird endgültig feststehen, wer die Wahl 2020 denn gewonnen hat?

Dr. Herbert Sirois

Dr. Herbert Sirois © privat

Herbert Sirois: Bei einem knappen Wahlergebnis zugunsten Bidens wird Trump keine Niederlage eingestehen, das schafft er charakterlich nicht. Ein dann womöglich folgender juristischer Kampf könnte über Wochen gehen. Bei der Wahl 2000 hat es 36 Tage gedauert, bis der Oberste Gerichtshof die Auszählung beendet hat. Mit der Folge, dass der demokratische Präsidentschaftskandidat Al Gore, obwohl er nicht schlecht im Rennen lag, seine Niederlage eingestanden hat, auch um der Demokratie willen. Am 8. Dezember ist der „safe harbour day“, bis dahin müssen alle Differenzen hinsichtlich der Auszählung beigelegt sein und alle Gerichtsentscheidungen vorliegen. Dann tritt das Wahlmännerkollegium zusammen, das wiederum bis zum 14. Dezember einen Präsidenten wählen muss.

Es ist durchaus vorstellbar, dass nun erneut der Oberste Gerichtshof entscheiden muss. Drei der neun Richter hat Trump ins Amt gebracht. Was ist da zu erwarten?

Herbert Sirois: So konservativ diese Leute sind, die er berufen hat: Die große Aufgabe des Gerichts ist es, die Verfassung zu wahren und nicht sie zu zerstören. Es gibt also Hoffnung für die Demokraten. Was allerdings nicht vergessen werden sollte: Trump hat in seiner Amtszeit auch 200 Bundesrichter-Posten besetzt. Und das wird sich in den Einzelstaaten, wo es jetzt wahrscheinlich zu riesigen Konflikten kommt, auswirken.

2016 hat sich Deutschland gewundert, wie die Amerikaner einen Mann wie Donald Trump wählen können, nun wundert sich Deutschland ein weiteres Mal über sein starkes Abschneiden. Was verstehen wir nicht an Amerika?

Herbert Sirois: Wir glauben, dass die Amerikaner eigentlich so wie wir sind, aber das stimmt nicht: Sie ticken völlig anders. Das politische System funktioniert anders, die Themen sind andere. Für die Amerikaner spielt die Außenpolitik anders als für uns eine untergeordnete Rolle. George Bush senior hatte eine glänzende außenpolitische Bilanz, aber er wurde abgewählt, weil er die Steuern erhöhen musste. Donald Trump konnte lange darauf hinweisen, dass die amerikanische Wirtschaft großartig lief, die Arbeitslosigkeit niedrig und die Börsen auf Rekordhoch war – hätte die Wahl vor Corona stattgefunden, Biden hätte keine Chance gehabt.

War Biden der falsche Kandidat?

Herbert Sirois: Die Demokraten haben es in vier Jahren nicht geschafft, einen Kandidaten aufzubauen, der Trump wirklich herausfordern kann. Ein 77-Jähriger, mag er auch noch so ein guter Politiker sein, steht einfach nicht überzeugend für Wandel. Sie haben denselben Fehler wie 2016 gemacht. Hillary Clinton war der Inbegriff des politischen Mainstreams gewesen – den niemand mag.

Aber was finden so viele Amerikaner an Trump?

Herbert Sirois: Donald Trump beherrscht die politische Show perfekt. Ja, er lügt, ja, er erzählt Quatsch, ja, er sagt Schreckliches über Frauen und Latinos. Aber viele von ihnen stimmten trotzdem für Trump, weil er eine Sprache wählt, die die Amerikaner verstehen – und die ihn von der politischen Elite in Washington unterscheidet.

Warum hat diese Elite einen so schlechten Ruf?

Herbert Sirois: Wenn Sie sich amerikanische Filme ansehen, dann ist der Böse meist der Vertreter Washingtons, der Gute der Homeboy vor Ort. Die Ablehnung einer weit entfernten, zentralen, potenziell korrupten und übergriffigen Macht ist seit der Revolution 1776 tief in den Köpfen vieler Amerikaner verankert.

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