Helmholtz-Forscher schlägt Alarm: "Sind mit zwei Pandemien konfrontiert"

17.2.2021, 14:22 Uhr
Spurensuche in einem Labor von Bioscientia: Die britische Coroanvirus-Mutante B.1.1.7. breitet sich zunehmend aus. Das Unternehmen Bioscientia aus Ingelheim hilft mit Sequenzer-Automaten bei der Analyse. 

© Andreas Arnold, dpa Spurensuche in einem Labor von Bioscientia: Die britische Coroanvirus-Mutante B.1.1.7. breitet sich zunehmend aus. Das Unternehmen Bioscientia aus Ingelheim hilft mit Sequenzer-Automaten bei der Analyse. 

Michael Meyer-Hermann ist Immunologe und hält die Pandemie für längst nicht besiegt - im Gegenteil: "Wir haben es mit zwei Pandemien zu tun – einer alten, und einer mit aggressiven Mutanten. Das macht den Ausgang ungewiss", sagte er dem Berliner Tagesspiegel. Er fürchtet sogar, dass die dritte Welle bereits rollen könnte.

Meyer-Hermann warnt, dass ansteckendere Varianten des Coronavirus die von der Politik angepeilte Inzidenz von 35 Infektionen pro 100.000 Einwohner und Woche torpedieren. Sollte sich das Vorkommen der Mutante B.1.1.7. ungünstiger entwickeln als erwartet, könne es sein, dass die 35 mit dem aktuellen Lockdown gar nicht zu erreichen sei. "Das macht deutlich, dass jede Form von Öffnungen zum jetzigen Zeitpunkt ein hohes Risiko birgt, die gesetzten Ziele nicht erreichen zu können.“

Wenn "Mutanten" dazwischenfunken

Meyer-Hermann, Physiker und Mathematiker, leitet am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig die Abteilung Systemimmunologie. "Wir sind aktuell mit mindestens zwei Pandemien konfrontiert“, erklärte der Forscher dem Tagesspiegel. "Die alte haben wir mit den aktuellen Maßnahmen unter Kontrolle und bringen die Inzidenzen mit einer Reproduktionszahl von 0,85 runter.“ Eine Inzidenz von 35 könne so Anfang März erreicht werden - allerdings ohne die geplanten leichten Öffnungen und ohne ein "Dazwischenfunken" von Mutanten.

Gleichzeitig breite sich die neuen Variante, deren Reproduktionszahl mit den aktuellen Maßnahmen über eins liegt, bereits aus. "Da die neue Variante noch nicht dominant ist, sieht das in der Summe immer noch wie sinkende Fallzahlen aus", erläutert der Experte. Die Mutante B.1.1.7. habe in konservativen Schätzungen aber eine um 35 Prozent höhere Übertragungswahrscheinlichkeit.

"Sie befindet sich in Deutschland bereits wieder in einer Phase des exponentiellen Wachstums und die aktuellen Maßnahmen reichen nicht, um diese Entwicklung auszubremsen“, verriet Meyer-Hermann dem Tagesspiegel. „Je mehr man jetzt aufgrund der fallenden Inzidenzen lockert, desto früher wird die dritte Welle mit B.1.1.7. sich entwickeln. “

Alarmierende Zahlen aus Großbritannien

Über kurz oder lang werde diese Mutation sogar dominieren, ist er sich sicher. Die Zahlen deuteten jetzt schon darauf hin: Die erstmals in Großbritannien nachgewiesene veränderte Form des Virus habe inzwischen einen Anteil von mehr als 20 Prozent an den Gesamtinfektionen in Deutschland. Im Dezember und Januar schätzte das RKI den Anteil noch auf sechs Prozent. In Großbritannien dominiert die Variante B.1.1.7. längst das Infektionsgeschehen: In fast 90 Prozent aller untersuchten Proben haben Ärzte diese Mutation nachgewiesen, in London seien es sogar 97 Prozent, heißt es.

Was bedeutet das für Deutschland? Die Expansion dieser Variante lasse sich durch Beibehaltung der aktuellen Maßnahmen so lange verzögern, dass die Fallzahlen hinreichend sinken würden, glaubt Meyer-Hermann und plädiert für ein Inzidenz-Ziel um die 10. Mit einer dann einfacheren und besseren Nachverfolgung lasse sich die dritte Welle noch abfangen, meint er. Eine Diskussion über Öffnungen hält er daher im Moment für absolut fatal.

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