Lauterbach bei Maybrit Illner: "Möglichkeiten der Tests nicht überschätzen"

26.2.2021, 14:32 Uhr
Karl Lauterbach erklärte Schwachstellen der Testkonzepte.

© Kay Nietfeld, dpa Karl Lauterbach erklärte Schwachstellen der Testkonzepte.

"Lockern, aber sicher – geht das?" debattierte die Moderatorin mit SPD-Politiker Karl Lauterbach, Wissenschaftsjournalist Harald Lesch, Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der Leiterin des Weimarer Gesundheitsamtes Isabelle Oberbeck und Susanne Schreiber, die stellvertretende Vorsitzende des Ethikrates.


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Grünen-Politiker Palmer hält einen weiteren Lockdown ohne Lockerungen für nicht mehr tragbar – für die Menschen und für die Betriebe: "Die Innenstädte werden, wenn wir sie erst im Sommer aufmachen, halb tot sein. Wir können uns Zulassen nicht mehr leisten", warnte er und führte aus: "Es geht um die Grundfeste unserer Gesellschaft, die Keimzelle der Demokratie ist die Kommune. Wir werden unsere Städte nicht mehr wiedererkennen, wenn wir jetzt noch drei oder vier Monate weitermachen." Um ohne ein allzu großes Risiko öffnen zu können, bedarf es aus Sicht des 48-Jährigen eine Abkehr von der "Schwarz-Weiß-Logik" und ein gutes Sicherheitskonzept, das vor allem von Schnelltests getragen werden könne.

Wie? Das versucht Palmer, der ohnehin durch Sonderwege in der Corona-Bekämpfung auffiel, anhand der Stadt Tübingen zur verdeutlichen: Seit drei Wochen würden dort Schüler, Lehrkräfte und Erzieher – sofern Präsenzunterricht stattfindet – geimpft werden. "Wir haben die neue Generation der Tests, die man selbst anwenden kann", erklärte der Oberbürgermeister, der zudem von einer "kinderleichten" Nutzung der Tests spricht. Ein ähnliches Konzept schlägt er für die Innenstädte vor: In Teststationen könnten sich Personen mit entsprechendem Testergebnis die Bescheinigung dafür holen, für sechs Stunden einkaufen zu gehen oder beispielsweise ein Museum zu besuchen. Diese Art des Halbtagestickets könnte aus Sicht des Grünen-Politikers eine Möglichkeit sein, "die geschlossenen Bereiche zu öffnen ohne die Pandemie allzu sehr zu befeuern."

Susanne Schreiber äußerte eine differenzierte Sichtweise: Als Naturwissenschaftlerin erachte sie Öffnungen ob der besorgniserregenden Mutanten als "schwierig", dennoch wisse sie auch um die "Nebenwirkungen" des Lockdowns. "Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht", summierte die stellvertretende Vorsitzende des Ethikrates. Aus ihrer Sicht ginge es darum, "auch mit gegebener Unsicherheit die bestmögliche Variante zu finden und abzuwägen".


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Lesch und Lauterbach sprachen sich gegen weitreichende Lockerungen aus: Der Wissenschaftsjournalist warnte: "Wenn uns die britische Mutation überrollt, kann es uns passieren, dass wir eine Tsunamiwelle an Erkrankungen kriegen, die wir dann wieder mit einem heftigen Lockdown beantworten müssen." Er plädiert für eine langsame, stufenweise Öffnungsstrategie.

Karl Lauterbach, nach dessen Auffassung Deutschland "ganz klar in der dritten Welle angekommen" sei, forderte für "noch ungefähr sechs oder acht Wochen" die Fortführung des Lockdowns. Diesen Zeitraum benötige es in etwa um die Gruppe der 70- bis 80-Jährigen zu schützen, denn diese Personen seien bisher noch gar nicht immunisiert. Selbst unter den Über-80-Jährigen sei nicht einmal die Hälfte geimpft.


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Und die Tests? Sind das wirklich die Wegbereiter der Öffnungsschritte? Nein, zumindest noch nicht. Denn laut dem SPD-Politiker dürfe man deren "Möglichkeiten nicht überschätzen". Der 58-Jährige machte mehrere Schwachstellen aus: Laut einer Studie, so argumentierte er, würden die Tests (sofern sie richtig angewandt werden) "in sechs von zehn Fällen die Ansteckung und die Wahrscheinlichkeit, dass man jemanden ansteckt, erkennen". Die Folgerung: In vier von zehn Fällen wäre dem nicht so. "Da muss man vorsichtig sein", mahnte der Mediziner.

Einige Tests, die noch auf Zulassung warten hätten nicht die Qualität – der von Palmer in Tübingen angebotene Test zähle nicht dazu, auch die drei bisher erlaubten Selbsttests nicht. Diese seien "wirklich gut", doch in ihrer Quantität nicht ausreichend, um die Nachfrage zu decken. "Ich sehe den Fehler, dass wir unvorbereitet mit den Tests auf den Markt gehen, ohne dass sie vorher geprüft worden sind", gab Lauterbach seine Bedenken zu Protokoll. Zudem würden "viele Menschen die Tests falsch durchführen". Die Vorstellung "Wir testen jeden der ins Restaurant will und dann können wir den Lockdown abblasen" hält er demnach für unrealistisch. Es sei darüber hinaus nicht sicher gestellt, dass positiv getestete Personen auch den PCR-Test machen und dem Gesundheitsamt gemeldet werden. Boris Palmer warf ein: "Das sind aber alles lösbare Probleme, nicht immer nur Bedenken vortragen."


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Bedenken. Das Stichwort für das derzeitige Imageproblem des Astrazeneca-Impfstoffs, dem sich auch die Gäste der vergangenen Maybrit-Illner-Runde widmeten. Nur 15 Prozent der Impfdosen konnten verimpft werden. Die Zweifel in der Bevölkerung bezeichnete Harald Lesch als eine "hysterische Reaktion der Öffentlichkeit". Astrazeneca schütze vor schweren Verläufen und würde somit zu einer wesentlich geringeren Auslastung der Krankenhäuser führen. "Es ist grundsätzlich besser geimpft zu sein, als nicht geimpft zu sein", konstatierte der Journalist.

Isabelle Oberbeck, Leiterin des Gesundheitsamtes Weimar, hält es für "absolut inakzeptabel", wenn Impfstoff nicht genutzt werde. "Die Nebenwirkungen, von denen berichtet werden, kennen wir auch von Biontech oder von Moderna", stellte die Amtsärztin klar. Sollen die Impfkapazitäten also an andere, impfwillige aber womöglich weniger gefährdete Gruppen weitergegeben werden? Nein, wäre die Antwort von Susanne Schreiber, die erklärte: "Wenn wir mit einer Impfung jemanden schützen, der ein geringeres Risiko hat, dann bleibt jemand anderes ungeimpft, der ein höheres Risiko hat." Statistisch führe dies zwangsläufig zu mehr Todesfällen.


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Einen strategischen Fehler sprach Boris Palmer an, der ohnehin mehrmals die Bürokratie kritisierte und Pragmatismus bemängelte: "Der Fehler war, den Impfstoff nicht für über 65-Jährige zuzulassen, da sind wir wieder übervorsichtig gewesen. Da könnten wir sehr viele Leben retten." Zustimmung erhält er von Karl Lauterbach, der sich auf eine Datengrundlage beruft, die eine Zulassung auch für ältere Menschen ermöglicht hätte. Die "vorzügliche" Wirkung des "unfassbar guten Impfstoffs" von Astrazeneca ließe sich am Beispiel von Großbritannien erkennen.

Und letztlich sei es eben die Immunisierung, die Deutschland aus der Pandemie helfe, und "nicht das Testen", betonte Oberbeck. Letzteres könnte lediglich ein Helfer sein. Ebenso wie eine von Boris Palmer nach südkoreanischem Vorbild vorgeschlagene App, die Infektionskontakte sowie deren Ort und Zeit registriere. "Dann", so der Oberbürgermeister, "hätten wir die zweite Welle locker durchgestanden."


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Nach dem von Lauterbach in einem persönlichen Gespräch mit dem Grünen-Politiker vorgebrachten Einwand, eine solche App sei, wie Palmer den Mediziner zitierte, "in Deutschland politisch nicht durchsetzbar" warf beim Tübinger Oberbürgermeister die Frage auf: "Warum ist in Deutschland die massive Einschränkung von Grundrechten, Wohlstand und Bildung möglich, aber nicht die Preisgabe von Daten, die Google und Apple sowieso haben, an ein Gesundheitsamt." Er bezog sich damit auf das zuvor von ihm angeführte Zitat von Rudolf Virchow: "Gesundheit ist dort, wo Bildung, Wohlstand und Freiheit sind."

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