Rufe auf Twitter werden lauter

Scharfe Töne: #SoederRuecktritt beschäftigt das Netz - "Millionen Menschen ihrer Freiheit beraubt"

8.10.2021, 11:56 Uhr
Schweigt bislang: Markus Söder.

© Matthias Balk, dpa Schweigt bislang: Markus Söder.

"Nein", schrieb die Münchner Polizei in aller Ernsthaftigkeit: "Ein Buch auf einer Bank lesen ist nicht erlaubt." Auf Twitter war das, im April 2020. In Bayern galt, die Corona-Pandemie hatte gerade das Land erreicht, eine Ausgangssperre. Eine Ausgangssperre, die nun vom Bayerischen Verwaltungsgerichtshof für rechtswidrig erklärt wurde.

Die Staatsregierung will eine Revision prüfen, selbst geäußert hat sich Ministerpräsident Markus Söder noch nicht. Doch der Druck wächst. Auf Twitter war das Stichwort #SoederRuecktritt zuletzt eines der am meist verwendeten. "Hat es irgendwelche Konsequenzen, wenn ein Politiker amtsmissbräuchlich 13 Millionen Menschen ihrer Freiheit beraubt (...)? Oder ist das in Bayern wie Falschparken?", fragt beispielsweise ein Nutzer. Ein anderer widerspricht: "Leute machen jetzt auf Drama wegen einer Ausgangssperre, die nicht einmal eine richtige Ausgangssperre war. Geschäfte waren halt früher zu, aber wir hatten es nie so hart wie in Spanien."

Tatsächlich hatten andere europäische Staaten deutlich härtere Regeln erlassen: In Spanien waren im Frühjahr 2020 anders als in Bayern Spaziergänge verboten, in Frankreich durften Bürger maximal eine Stunde pro Tag Sport treiben - und das nur im Radius von einem Kilometer um die Wohnung.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hatte entschieden, die Ausgangssperre im März und April 2020 sei nicht rechtmäßig gewesen. Die Richter bemängelten insbesondere, dass damals Einzelpersonen ohne besonderen Grund nicht ihre Wohnung verlassen durften, obwohl das von ihnen ausgehende Infektionsrisiko gering war. Zudem kritisierten die Richter, dass die Bürger unter Generalverdacht gestellt worden seien, weil man ihnen unterstellte, sie würden beim Verlassen des Hauses Ansammlungen bilden. Diese Sichtweise, heißt es in der Entscheidung (Az. 20 N 20.767) ungewöhnlich deutlich, "unterstellt ein rechtswidriges Verhalten der Bürger und setzt dieses sogar voraus".

Auch aus der Politik schallen seither scharfe Töne nach Bayern. "Was sind Armin Laschet und ich von Söder kritisiert worden, weil wir in NRW keine landesweite Ausgangssperre verhängt haben", sagte der nordrhein-westfälische Familienminister Joachim Stamp (FDP). "Nun ist amtlich: Söder hat die Verfassung gebrochen. Wenn er auch nur einen Funken Anstand hätte, würde er sich mindestens öffentlich entschuldigen.“

Opfer des "Präventionsparadox"?

Befürworter der Corona-Politik der bayerischen Staatsregierung argumentieren hingegen, diese sei womöglich Opfer ihres eigenen Erfolgs geworden: Gerade weil sie hart durchgegriffen habe, sei der Freistaat mit seinem Gesundheitssystem gut durch die Pandemie gekommen - das wiederum habe Kritiker erst in die Lage versetzt, die Notwendigkeit der Maßnahmen anzuzweifeln, weil ja alles gar nicht so schlimm gewesen sei. Charité-Virologe Christian Drosten nennt dieses Phänomen das "Präventionsparadox".

Tatsächlich agierte die Staatsregierung im Frühjahr unter hohem Handlungsdruck - bei gleichzeitig begrenztem Wissensstand über die Gefährlichkeit und Übertragungswege des Coronavirus. Deshalb gesteht ihr auch der Verwaltungsgerichtshof einen "gerichtlich nicht vollständig überprüfbaren Beurteilungsspielraum" zu. Doch angesichts der drastischen Eingriffe in Grundrechte sei gegen das "Übermaßverbot" verstoßen worden.

"Schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen aus bloßer Vorsorge"

Hans-Jürgen Papier, der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts und damit der Nähe zu Querdenkern sicher unverdächtig, fordert bereits eine juristische Aufarbeitung der staatlichen Corona-Einschränkungen. "Schwerwiegende Freiheitsbeschränkungen aus bloßer Vorsorge sollte es künftig nicht mehr geben. Wir müssen uns rechtsstaatlich wappnen, das waren wir diesmal lange Zeit nicht", sagte er der Welt.

Die Einschränkung von Grundrechten hatten auch beim Bundesverfassungsgericht zu Klagen geführt. Eine erste Grundsatz-Entscheidung aus Karlsruhe wird im November erwartet.

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