Flut an Sanktionen
So haben 100 Tage Krieg in der Ukraine die Welt verändert
04.06.2022, 14:45 Uhr
Die Welt wird nie wieder so sein wie vor dem Krieg. An dieser Erkenntnis kann es wohl keinen Zweifel mehr geben. Aber wie die neue Weltordnung nach Kriegsende aussehen wird, weiß heute niemand so genau. In Politik und Wirtschaft sind die Veränderungen, die der Krieg mit sich bringt, deutlich spürbar – auch ganz konkret im Alltag.
Zeitenwende in der deutschen Außenpolitik
Mit seiner sogenannten Zeitenwende-Rede im Bundestag nur drei Tage nach Kriegsbeginn hat Bundeskanzler Olaf Scholz die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik auf den Kopf gestellt. Die Bundeswehr wird nun mit einem 100-Milliarden-Euro-Programm saniert, um sie für die Landes- und Bündnisverteidigung fit zu machen. Erstmals werden Waffen in einen laufenden Krieg gegen eine Atommacht mitten in Europa geschickt. Ganz zu schweigen, von der Energieversorgung, die mit der Abkehr von russischem Gas und Öl neu aufgestellt wird.
Den Ankündigungen sind inzwischen Taten gefolgt. Auch wenn es in der Koalition noch kräftig ruckelt, wurde am 3. Juni – dem 100. Kriegstag - die Grundgesetzänderung für das Bundeswehr-Sondervermögen beschlossen. Bei den Waffenlieferungen wurde Scholz lange Zögerlichkeit vorgeworfen. Mit seinem Versprechen in der Bundestagsgeneraldebatte, der Ukraine nun auch Mehrfachraketenwerfer und ein Flugabwehrsystem zu schicken, dürfte die Kritik allerdings abflauen.
Die Welt sortiert sich neu
Die Vereinten Nationen sind in ihrer Haltung zum Krieg gespalten. In der UN-Vollversammlung hatten Anfang März 141 Staaten den Krieg verurteilt. Fünf Länder lehnten eine entsprechende Resolution aber ab, 35 enthielten sich. Unter den Enthaltungen sind die beiden bevölkerungsreichsten Staaten der Welt, China und Indien. Außerdem Südafrika, das als wichtigstes Partnerland Deutschlands und anderer westlicher Staaten in Afrika gilt.
Mit Brasilien verzichtete auch das größte, bevölkerungsreichste und wirtschaftsstärkste Land Südamerikas auf eine Verurteilung des Krieges. Brasilien, China, Indien und Südafrika sind mit Russland in der Brics-Staatengruppe verbunden. Ihr steht die G7 wirtschaftsstarker Demokratien gegenüber, in der Deutschland derzeit den Vorsitz hat. Die Brics- und G7-Staaten sitzen in der G20 an einem Tisch. Wenn im November der nächste Gipfel in diesem Format in Indonesien stattfindet, wird man ein Gefühl dafür bekommen, wohin sich das globale Gefüge bewegt – in Richtung Blockbildung und Konfrontation oder doch auf den Weg der Kooperation.
Neue Geschlossenheit des Westens – zumindest vorübergehend
Putin hat eins geschafft, was er auf keinen Fall wollte: Er hat den Westen zusammengeschweißt – zumindest vorübergehend. Die Europäische Union war sich in der Verurteilung des Kriegs und bei der Sanktionierung Russlands zunächst so einig wie selten. Die Nato, die zwischenzeitlich vom französischen Präsident Emmanuel Macron schon für „hirntot“ erklärt worden war, lief nach Kriegsbeginn mit neuer Bestimmung wieder zu Hochform auf. Vom viel beschworenen Ende des Westens redet jetzt niemand mehr.
Die Geschlossenheit hat aber schon wieder tiefe Risse bekommen. Die Türkei will den Nato-Beitritt Finnlands und Schwedens nicht einfach so akzeptieren. Und in der EU-Diskussion über das Öl-Embargo gegen Russland stellte vor allem Ungarn sich quer. Der nächste Härtetest für die EU könnte schon im Juni anstehen, falls die Frage auf den Tisch kommt, ob die Ukraine Beitrittskandidat werden soll.
Westen sieht Russland weitgehend isoliert
Seinen am 24. Februar befohlenen Einmarsch in die Ukraine sieht Kremlchef Wladimir Putin auch als einen Krieg mit dem Westen zur Rettung der „russischen Welt“. Erreicht hat er das Gegenteil – die russischsprachige Bevölkerung in der Ukraine wendet sich ab vom großen Nachbarn. Aber auch russische Künstler und Sportler klagen im Ausland über Ausgrenzung und bisweilen über „Russophobie“. Athleten sind von internationalen Wettkämpfen ausgeschlossen.
Eine beispiellose Flut an Sanktionen des Westens bringt die russische Wirtschaft in Turbulenzen. 10 000 Sanktionen gebe es inzwischen, kein anderes Land der Welt sei so stark mit Strafmaßnahmen belegt wie Russland, heißt es in Moskau. Zu Hunderten nehmen westliche Unternehmen, darunter auch Siemens nach 170 Jahren, Abschied aus dem flächenmäßig größten Land der Erde. Doch der Machtapparat in Moskau lächelt das weg. Der Westen sei nur ein Teil der Welt, heißt es. Die Rohstoffgroßmacht verweist nicht nur auf seinen wichtigen Nachbarn China, sondern etwa auch auf Indien als Verbündeten. Auch als Vetomacht im UN-Sicherheitsrat sieht sich Russland auf der Weltbühne präsent.
Auswirkungen des Krieges auf die Energieversorgung
Aus Russland kamen vor dem Krieg rund 35 Prozent der Rohölimporte, etwa 55 Prozent des deutschen Gasverbrauchs und etwa 50 Prozent des deutschen Steinkohleverbrauchs. Mittlerweile sind die Quoten deutlich gesunken, vor allem durch neue Verträge mit anderen Lieferanten. Nach Angaben von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) liegt der Anteil russischen Öls inzwischen bei zwölf Prozent. Beim Gas lag er laut Ministerium Mitte April bei 35 Prozent. Bei Steinkohle sank der Anteil bis Anfang Mai auf nur noch acht Prozent.
Ungewöhnlich niedrige Füllstände der Gasspeicher nährten im vergangenen Winter die Sorge vor einem Gas-Lieferstopp durch den russischen Staatskonzern Gazprom – mit unabsehbaren Folgen für Wirtschaft und Haushalte. Neue Nahrung erhielten die Befürchtungen, als Putin Ende März neue Zahlungsmodalitäten verfügte und ankündigte, dass Lieferungen an „unfreundliche“ Länder eingestellt werden. Mittlerweile erhalten Polen, Bulgarien, Finnland und neuerdings die Niederlande und Dänemark kein Gas mehr aus Russland, weil sie sich weigerten, auf das neue Zahlungsschema umzusteigen.
Inflationsrate so hoch wie seit der Ölkrise nicht mehr
Die Kriegsfolgen auf den internationalen Märkten spürt praktisch jeder Verbraucher im Geldbeutel: Die Inflationsrate ist mit fast acht Prozent so hFlut an Sanktionenoch wie seit der Ölkrise in den 70er Jahren nicht mehr. Nicht nur explodierende Energiepreise sind der Grund. Auch Lebensmittel werden teils sprunghaft teurer, unter anderem weil die „Kornkammer Ukraine“ mit ihren fruchtbaren Böden als wichtiger Lieferant von Getreide und Sonnenblumenöl ausfällt. Auch Preise für Futter- und Düngemittel sind in die Höhe geschossen.
Noch viel schlimmer könnte es aber Menschen in ärmeren Teilen der Welt treffen. Nachdem Dürren und Versorgungsengpässe wegen der Corona-Pandemie bereits viele Nahrungsmittel knapp und teuer werden ließen, fürchten Experten wachsenden Hunger und warnen vor der größten humanitären Krise seit dem Zweiten Weltkrieg.