Spaltung der Gesellschaft

"Verteidiger" und "Entdecker": Der Wirklichkeit entrückt

17.6.2021, 15:50 Uhr
In 100 Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt - und aus dessen Mitte der oder die neue Bundeskanzler/in.

© Felix Schröder, dpa In 100 Tagen wird ein neuer Bundestag gewählt - und aus dessen Mitte der oder die neue Bundeskanzler/in.

Was das Forscherteam der Universität Münster über die politisch-kulturellen Befindlichkeiten in Deutschland, Frankreich, Schweden und Polen herausgefunden hat, bestätigt auf einer seriösen Datenbasis, was Politik(er), Wissenschaft, aber auch wir Medienschaffende sehr oft mehr oder weniger direkt erfahren: Die Gesellschaft ist gespalten zwischen jenen, die die Veränderungen in einer globalisierten Welt als Bedrohung begreifen und jenen, die eher die Chancen und Entwicklungsmöglichkeiten begrüßen.

Beide Gruppen - von den Forschern mit den Begriffen "Verteidiger" und Entdecker" tituliert - sind von politischer Relevanz, stehen sich in Abneigung gegenüber und sind für die Argumente der Gegenseite kaum mehr empfänglich. Freilich, jene, die sich nicht aus dem demokratischen Diskurs zurückziehen und sich nicht nur noch in ihren Internet-Filterblasen bewegen, sind noch immer in der Mehrheit. Doch die Mehrheit bröckelt. Was ist zu tun, damit sie nicht gänzlich erodiert?


Spaltung der Gesellschaft: Wir sind mehr als ihr


Hier helfen die Schlüsse weiter, die die Wissenschaftler aus den Studienergebnissen ziehen - und die sie wohltuend nüchtern formulieren und nicht mit dem Impetus des Intellektuellen, der seine Probanden auf einen politisch korrekten, moralisch vermeintlich überlegenen Weg bringen will. Erstens: Die Polarisierung der gesellschaftlichen Gruppen hat ihren Grund in der wechselseitigen Abgrenzung und - Achtung: Abwertung! - von "Verteidigern" und "Entdeckern". Bedeutet: Wer nicht meiner Meinung ist, ist ein intellektueller Wurm.

Zweitens: Bisherige politische Reaktionen haben die Polarisierung der Gruppen verstärkt. Eine klare und berechtigte Kritik an der Politik. Konkret: Wer zum Beispiel in der immer mehr von Migration geprägten Gesellschaft nicht nur Segnungen, sondern auch Zumutungen sieht, ist für die Gruppe der "Entdecker" ein potenzieller oder tatsächlicher Rassist. Was von linker und grüner Seite mehr oder weniger deutlich nach "rechts" adressiert wird. Womit die Grenze zwischen bürgerlich-konservativem und nationalistisch-völkischem Denken absichtlich verwischt werden soll.

Drittens: Unterschiede in den Bedürfnissen zwischen "Entdeckern" und "Verteidigern" müssen ernstgenommen werden, ohne polarisierte Positionen zu akzeptieren oder zu übernehmen. Auch wieder ein deutlicher Hinweis an die Politik - und an jene Multiplikatoren in Wissenschaft, Wirtschaft und Medien, die nicht selten fernab der gesellschaftlichen Wirklichkeit sozialisiert sind; und den Kontakt mit der tatsächlichen Realität der Millionen von Menschen eher scheuen, die ein normales, unauffälliges Leben führen, die normale Jobs haben und von Staat und Politik nichts weiter erwarten als ordentliches Verwaltungshandeln und gute Regierungsführung. Sie sind die vielbeschworene "Mitte" der Gesellschaft. Und nicht die "Verteidiger" oder "Entdecker".

Verwandte Themen


5 Kommentare