Vertreibung nach dem Zweiten Weltkrieg

Bayerischer Historiker spricht von "Völkermord" an Sudetendeutschen

15.8.2021, 11:11 Uhr
Nach ihrer Vertreibung kommen Sudentendeutsche in Deutschland an.

© epd/Keystone Nach ihrer Vertreibung kommen Sudentendeutsche in Deutschland an.

Professor Kittel, 2008 hat der Bundestag die Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ ins Leben gerufen. Sie plädieren nun dafür, die Vertreibung der Deutschen einen Völkermord zu nennen. Halten Sie den dritten Teil des Stiftungsnamens, die Versöhnung, eigentlich für zu hoch bewertet?

Manfred Kittel: Nein. Im Stiftungsrat gab es aber immer wieder Diskussionen, wie denn der anspruchsvolle Begriff Versöhnung genau zu füllen sei. Man hätte lieber „nur“ von Verständigung gesprochen. Ich sehe meinen Beitrag zum Diskurs über Vertreibung und Völkermord keineswegs im Gegensatz zur Versöhnung.


Kommentar: Ein gefährlicher Vorstoß


Das ist schwer vorstellbar. Die weit gediehene Verständigung etwa mit Tschechien wäre vermutlich sofort schwer gestört, würde von irgendeiner Seite die Vertreibung der Deutschen offiziell als Völkermord klassifiziert werden.

Kittel: Anstoß für meine Anmerkungen in dieser Richtung war die Entscheidung des Bundestags Ende Mai, die Gräueltaten durch das deutsche Kaiserreich vor 113 Jahren an den Herero und Nama in Namibia als Völkermord anzuerkennen. Ich halte es für unglücklich, eines der Großverbrechen auf diese Weise herauszustellen, die es im Kontext der deutschen Geschichte gab. Bei dieser Gelegenheit hätte zumindest auch breiter über die Verwendung des Begriffs Völkermord diskutiert werden müssen. So bestand im Bundestag noch 1954 in der Debatte über den Beitritt zur UN-Völkermordkonvention von 1948 von der CDU bis zur SPD Konsens, die Vertreibung der Deutschen gleich nach der Vernichtung der Juden ebenfalls einen Völkermord zu nennen. Die UN-Konvention hatte den Völkermordbegriff nun einmal sehr weit gefasst. Gemeint waren nicht nur die Ermordung möglichst aller Angehörigen einer bestimmten Gruppe, sondern auch Handlungen, die einer Gruppe Lebensbedingungen auferlegen, die sie als solche zerstören. Das geschah im Zuge der Vertreibung Deutscher in unzähligen Fällen.

Rund 300 Menschen  haben vor sechs Jahren in der Nähe von Brünn in Tschechien an die Opfer des Todesmarsches deutscher Vertriebener im Mai 1945 erinnert. 2015 hat sich der Stadtrat von Brünn auch für die Gewaltaten entschuldigt, die dabei geschehen sind.

Rund 300 Menschen  haben vor sechs Jahren in der Nähe von Brünn in Tschechien an die Opfer des Todesmarsches deutscher Vertriebener im Mai 1945 erinnert. 2015 hat sich der Stadtrat von Brünn auch für die Gewaltaten entschuldigt, die dabei geschehen sind. © imago images/CTK Photo

Wer soll denn Ihrer Ansicht nach feststellen, dass solche Ereignisse als Völkermord einzustufen sind? Die deutsche Seite etwa mit Ihrer äußerst belastenden NS-Geschichte und dem NS-Genozid?

Kittel: Mir geht es vor allem darum, dass auf Vertriebenenseite vielen die früheren Debatten um den Begriff Völkermord noch sehr bewusst sind. So ist etwa 2006 das jährliche Pfingsttreffen der Sudetendeutschen Landsmannschaft unter dem Motto „Vertreibung ist Völkermord“ massiv kritisiert worden; vorher Ähnliches bei den Donauschwaben. Der Bundestag hätte das bei seiner Herero-Entscheidung bedenken sollen. 2016 hatte er ja schon die Verbrechen an den Armeniern 1915 zum Völkermord erklärt. Wenn vom höchsten deutschen Parlament einzelne historische Ereignisse so eingeschätzt werden, dann ist doch klar, dass das bei anderen Opfergruppen, wie etwa den Vertriebenen, vergleichende Fragen auslöst.

Manfred Kittel ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Regensburg. Der aus Neuendettelsau (Kreis Ansbach) stammende Historiker ist Gründungsdirektor der Bundestiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Dieses Amt hatte er bis 2014 inne. 

Manfred Kittel ist außerplanmäßiger Professor an der Universität Regensburg. Der aus Neuendettelsau (Kreis Ansbach) stammende Historiker ist Gründungsdirektor der Bundestiftung "Flucht, Vertreibung, Versöhnung". Dieses Amt hatte er bis 2014 inne.  © privat

Was hätte der Bundestag machen sollen?

Kittel: Am besten gar keine eigene Herero-Resolution verabschieden. Solche geschichtspolitischen Erklärungen vom moralischen Hochkatheder aus sind immer ambivalent.

Wohin sollen Ihre Anmerkungen und Einwände zu diesem Thema im Ergebnis führen?

Kittel: Der Punkt ist, dass mir in Gesprächen der Eindruck vermittelt wurde, dass die Herero-Resolution, sicher indirekt und ungewollt, wie eine Relativierung der Vertreibungen herüberkommen kann. Denn wie groß ist eigentlich der Unterschied zwischen dem Schicksal der Herero und zum Beispiel dem Untergang der Donauschwaben in der Vojvodina im heutigen Serbien? Von den 200.000 Menschen, die bei Kriegsende noch in Titos Jugoslawien lebten, ist schließlich allein etwa ein Drittel umgekommen. Und die Zerstörungsabsicht des Tito-Regimes scheint mir in diesem Fall sogar noch eindeutiger gewesen zu sein als das Vorgehen gegen die Herero.


Vertriebenen-Denkmal in Nürnberg beschmiert


Wenn Sie die Vertreibung der Deutschen Völkermord nennen, müssen sie auch die Siegermächte, die USA, Großbritannien, Frankreich, die damalige Sowjetunion mit zur Verantwortung ziehen. Die haben die „Übersiedlungen“, wie es damals hieß, der Deutschen abgesegnet.

Kittel: Jugoslawien wurde im Potsdamer Protokoll, in dem es um diese Zwangsumsiedlungen ging, aber zum Beispiel gar nicht erwähnt. Die anderen Regionen im heutigen Polen oder Tschechien schon, das ist auch Fakt.

Haben sich die Siegermächte damit des Völkermords an Deutschen schuldig gemacht?

Kittel: Sicher haben unsere späteren Verbündeten im Westen da historische Verantwortung auf sich geladen, wenngleich es für ihr damaliges Verhalten Erklärungen gibt. Nach dem barbarischen NS-Krieg konnte es kaum ihr erstes Ziel sein, Leid von den Deutschen abzuwenden.

Mit Erklärungen meinen Sie die Verbrechen, mit denen die Nationalsozialisten und der Wehrmacht die von ihnen besetzten Länder überzogen haben.

Kittel: So ist es.


Auslöser für die Vertreibung


Kritiker im politischen Bereich, wie etwa der bayerische SPD-Landtagsabgeordnete Volkmar Halbleib, sprechen mit Blick auf den Versöhnungsprozess von einem Irrweg, den Sie mit Ihren Thesen einschlagen.

Kittel: Ich finde, da reagiert man etwas überängstlich. Der Verständigungsprozess mit den östlichen Nachbarn ist zwischenzeitlich zum Glück so weit gediehen, dass er das aushält. Das setzt aber gerade voraus, dass man sich weiterhin alles sagen können muss und nichts verdrängt. Wissenschaftler müssen hier erst einmal nicht nach Mehrheiten schauen, sondern können Wahrheiten argumentativer Art suchen.

In der Konzeption der Dauerausstellung der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“ wurde ausdrücklich unterschieden zwischen Vertreibung und Genozid. Da waren Sie als Direktor noch im Amt. Ist diese Unterscheidung aus Ihrer heutigen Sicht falsch?

Kittel: Nein, das war nicht falsch. Es gibt aber sowohl für den weiten Völkermordbegriff der UN-Völkermordkonvention gute Argumente als auch für die engere Lesart, die vor allem in Deutschland, zumindest bis 2016, lange üblich war. Die weicht wegen des besonders extremen Völkermords des Holocaust in unserer Geschichte von der internationalen Expertendiskussion etwas ab.


Flucht und Vertreibung dokumentiert


War die Vertreibung der Deutschen nach Ihrem Verständnis nun ein Völkermord oder nicht?
Kittel: Sie war zumindest in bestimmten Regionen im Sinne der UN-Konvention wohl Völkermord, aufs Ganze gesehen würde ich als Nicht-Jurist aber eher von einem Menschheitsverbrechen sprechen.

Die UN-Völkermordkonvention ist Mitte der 1950er Jahre in deutsches Strafrecht überführt worden. Verfahren gab es aber mit Blick auf die Vertreibung Deutscher nicht.

Kittel: Das hat man während des Kalten Krieges erstens praktisch schwer machen können, aber auch mit Rücksicht auf die westlichen Verbündeten kaum. Wenn man die Strafverfolgung aufgenommen hätte, hätte ein Finger ja immer auch auf Washington oder London gezeigt. Das war damals außenpolitisch nicht gerade opportun.

Zur Vertreibungsgeschichte im Sudetenland gehört der Todesmarsch von Brünn im Mai 1945. 70 Jahre danach hat sich der Stadtrat von Brünn für Gewalttaten entschuldigt, die dabei geschehen sind. Ist eine solche Entwicklung als Folge einer fortschreitenden Verständigung nicht der bessere Weg, als sich mit der Frage zu beschäftigen, ob das ein Völkermord war?

Kittel: Da widerspreche ich nicht grundsätzlich. Nur sollten in Berlin bitte immer auch die Nebenwirkungen gut gemeinter Erklärungen bedacht werden – auch wenn das Thema Kolonialismusbewältigung derzeit noch so boomt.

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