Klebe-Protest bei Siemens in Franken: "Gewalt lehnen wir ab"

19.1.2020, 15:06 Uhr
Die Aktivisten klebten sich an der Eingangstüre fest und blockierten sie damit.

© Klaus-Dieter Schreiter Die Aktivisten klebten sich an der Eingangstüre fest und blockierten sie damit.

Sie protestierten auf dem Frankenschnellweg, sorgten dort für kleinere Staus im Berufsverkehr, sie legten sich vor die Sicherheitsschleuse am Nürnberger Airport, um auf Luftverschmutzung durch Jets aufmerksam zu machen - jetzt ist Siemens dran. Seit Wochen sorgt die Graswurzelbewegung "Extinction Rebellion" (XR) für Schlagzeilen, auch in Franken. Um gegen die Beteiligung an einem geplanten Kohlebergwerk in Australien zu demonstrieren, klebten sich einige Aktivisten an einem Siemens-Eingang in Erlangen fest. Konzerne sind dabei, die Zukunft des Planeten zu zerstören, sagt auch Florian Henig, der an dem sogenannten "GlueOn" beteiligt war. 

Was macht den Reiz von "Extinction Rebellion" aus, warum ist die Bewegung wichtig?

Florian Henig: Ein Reiz ist der disruptive Ansatz des gewaltfreien zivilen Ungehorsams. Er zielt darauf ab, das "Business-As-Usual" zu stören. Drei Jahrzehnte haben gezeigt, dass es mit Petitionen nicht getan ist. Das beste Beispiel aus dem vergangenen Jahr ist das sogenannte Klimapaket, welches nicht mal ansatzweise die Erfüllung des Übereinkommens von Paris garantiert. Der wichtigste Punkt aber ist die Gewaltfreiheit. Wir wollen weder Chaos noch Brüche schaffen und für die Demokratie empfinden wir eine große Liebe. Was wir alle ganz besonders nicht wollen ist Faschismus und Autoritarismus. Um diese Gefahr zu sehen, muss man nur nach Polen, Ungarn, in die USA und leider auch nach Deutschland schauen, wie man an Politikermorden und rassistischen und antisemitische Anschlägen sieht. Aus soziologischer Sicht würden ab einem bestimmten Punkt politischer Untätigkeit Bürger, jenseits von XR, zwangsläufig mit Gewalt reagieren.

Luisa Neubauer hatte im Interview mit den Nürnberger Nachrichten kürzlich gesagt, dass wir als Gesellschaft zu brav seien. Ist das so? 

Florian Henig: Ja, ich denke auch, dass wir zu brav sind. Die braven Protestformen wie Petitionen und Demonstrationen haben zu so gut wie nichts geführt. Die Zeit läuft ab! Viele Menschen in unserer Gesellschaft haben noch nicht begriffen, wie brenzlig unsere Lage wirklich ist. Uns bleiben nur noch wenige Jahre, um das Schlimmste mit ausreichender Wahrscheinlichkeit zu verhindern. Die Schuld hierfür sehe ich zum einen bei unseren Regierungen, die das Thema entweder belächelt haben oder es vor sich her in die nächste Legislaturperiode geschoben haben. Richtig problematisch ist dabei die legale Korruption über Lobbyismus. Aber auch die Unternehmen haben Schuld, allen voran diejenigen, die ihr Geschäft mit fossilen Energieträgern machen. Wie wir mittlerweile wissen, wussten Öl- und Gasunternehmen wie ExxonMobil und Shell anhand eigener Forschungsarbeiten bereits seit den 1970er Jahren über die Auswirkungen von CO2-Emissionen Bescheid. Das ist kriminell und fern jeglicher Humanität.

Wo liegen die Grenzen bei XR?

Florian Henig: Wir würden keine Gewalt anwenden. "Extinction Rebellion" orientiert sich an zehn Prinzipien und Werten. Alle sind willkommen und zwar so, wie sie sind. Für Diskriminierung ist kein Platz. Darüber hinaus stellen wir unser toxisches System offen in Frage und vermeiden Schuldzuweisungen und Beleidigungen. Ebenfalls wichtig ist uns der Kreislauf aus Aktion, Reflexion, Lernen und anschließendem Planen weiterer Aktionen. Nicht zu kurz sollte heutzutage die Kultur der Regeneration kommen. Auch in unserer Ortsgruppe arbeiten wir an einem besseren Umgang mit unseren Gegenübern und mit uns selbst.

Glauben Sie, dass innerhalb von XR ein gewisses Radikalisierungspotenzial existiert?

Florian Henig: Dazu müsste man definieren, was mit radikal gemeint ist. Mir gefallen die zwei Definitionen des Dudens: "von Grund aus erfolgend, ganz und gar; vollständig, gründlich" und "die Wurzel betreffend". Demnach wäre eine radikale Lösung eines Problems die vernünftigste. "Extinction Rebellion" ist nach dieser Definition bereits heute radikal. Die landläufig gebräuchlichste Definition wäre: "mit Rücksichtslosigkeit und Härte vorgehend". Aber: Rebellen, die nach dieser Definition handeln würden, verlören damit die Zugehörigkeit und deren Aktionen die Zurechenbarkeit zu XR.

Florian Henig (31) ist seit September 2019 bei XR Nürnberg aktiv. "Zuvor war ich erst zwei Mal in meinem Leben auf Demos", sagt er.

Florian Henig (31) ist seit September 2019 bei XR Nürnberg aktiv. "Zuvor war ich erst zwei Mal in meinem Leben auf Demos", sagt er. © privat

Die Aktion aus dem vergangenen Jahr, bei dem immer wieder der Verkehr am Flughafen Heathrow mit Drohnen gestört wurde, wurde ja auch aus dem Dunstkreis von XR organisiert. Was halten Sie davon?

Florian Henig: Von Aktionen, die Menschenleben gefährden könnten, halte ich wenig. Die Details kenne ich nicht, aber von XR wurde sie nicht durchgeführt. Die Störung des Flugverkehrs halte ich aber für gerechtfertigt. Er nimmt Dimensionen jenseits von Gut und Böse an. Dabei gäbe es Alternativen, etwa Nachtzüge, auch wenn die DB sich immer noch weigert, das Angebot wiederzubeleben.

Wie ist "Extinction Rebellion“ aufgebaut? Dezentralität, habe ich das Gefühl, spielt eine große Rolle. Wie muss man sich die Entstehung vorstellen, wie werden Ideen entwickelt?

Florian Henig: Dezentralität ist das richtige Wort. Wir organisieren uns in Ortsgruppen, sie bilden die Basis und bestehen aus etwa fünf bis 15 Bezugspersonen. Bei überregionalen oder bundesweiten Aktionen werden Delegierte bestimmt. Für größere Entscheidungen muss im Plenum jeder Ortsgruppe ein Konsens eingeholt werden, den der Delegierte dann vertritt. Wir setzen auf "Selbstorganisierte Systeme", kurz SOS. Das Konzept arbeitet mit Selbstbestimmtheit und Selbstwirksamkeitserfahrungen der Einzelnen und versucht möglichst hierarchiearm zu sein.

Wie viele Menschen organisieren sich innerhalb von XR in Franken?

Florian Henig: Das ist ehrlich gesagt schwer zu sagen. In Nürnberg haben wir in etwa 150 Rebellen, von denen circa 100 aktiv sind und etwa 50, die bei der Organisation mitarbeiten. In Franken selbst gibt es acht Ortsgruppen: In Nürnberg, Fürth, Erlangen, Bamberg, Bayreuth, Schweinfurt, Würzburg und Hohenlohe.

Ist es fair, dass sich aktuell vieles auf Siemens kapriziert? Warum ist der intensive Protest gegen den Konzern wichtig?

Florian Henig: In Zeiten europaweiten Klimanotstands ist es schwer verständlich, wie ein deutsches Unternehmen, das sich nach eigenen Aussagen dem Klimaschutz und der Nachhaltigkeit verpflichtet, eines der weltweit größten Kohleminenprojekte unterstützen kann. Circa 60 Unternehmen haben zuvor der Adani Group eine Absage erteilt. Damit signalisieren wir, dass wir zukunftszerstörendes Handeln von Unternehmen aufdecken und wachsenden Widerstand leisten werden. Das ist wichtig, weil der Protest schon jetzt Wirkung zeigt. Der Chef der weltgrößten Schattenbank BlackRock, Larry Fink, hat diese Woche einen Brandbrief an weltweit führende Konzerne geschickt, darunter auch Deutsche. Die Botschaft war: Kümmert Euch "gefälligst um mehr Klimaschutz". BlackRock hält gut fünf Prozent der Siemens-Anteile. Ich selbst halte nichts von BlackRock, aber das beweist uns, dass der Protest Konzerne unter Druck setzt, sich in die richtige Richtung zu bewegen.

Immer wieder kommt der Vorwurf auf, XR betreibe eine Art "Hyperemotionalisierung", gerade auch wenn es um das Kohlebergwerk geht. Zynisch gesagt: Die brennenden Wälder helfen als Drohkulisse. Warum arbeitet XR mit solchen Bildern?

Florian Henig: Vielleicht fehlt vielen Menschen der emotionale Bezug zu ihren Mitmenschen, der Erde und ihrer Zukunft. Vielleicht wird es auch nur so gesehen, weil wir in Zeiten von narzisstischer Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken und konstantem Stress, der mittlerweile immer mehr Opfer fordert, uns emotional abkoppeln. So werden dann angemessene Reaktionen als übertrieben wahrgenommen. Klimakummer (englisch: Climate Anxiety) ist kein Einzelphänomen. XR arbeitet mit klimawissenschaftlichen Fakten. Wenn das Verunsicherung auslöst, ist das lediglich eine der Realität angemessene Reaktion.

Was ist in den kommenden Wochen und Monaten noch zu erwarten? Wird es weitere Proteste gegen Siemens geben?

Florian Henig: Ich kann mir gut vorstellen, dass es weitere Proteste gegen Siemens geben wird. Wir werden im Mai wieder in Berlin sein, doch dieses Mal wird der Fokus auf diejenigen gerichtet, die dieses Schlamassel mehrheitlich verantworten. 2019 war das Jahr des Erwachens und Aufstehens. 2020 wird das Jahr der globalen Rebellion.

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