Nach mysteriösem Unfall auf der A3: Urteil fällt wohl im Januar

30.11.2020, 16:57 Uhr
In diesem schwarzen Hyundai war das Ehepaar unterwegs, als es zu dem Unfall auf der A3 kam. Rechts im Bild: Die Leitplanke, über die die Angeklagte kletterte.

© Fotos: News5 In diesem schwarzen Hyundai war das Ehepaar unterwegs, als es zu dem Unfall auf der A3 kam. Rechts im Bild: Die Leitplanke, über die die Angeklagte kletterte.

Am 22. September 2019, kurz vor 11 Uhr, verursachte Sandra N. auf der A3 zwischen den Anschlussstellen Erlangen-Tennenlohe und Nürnberg-Nord einen tödlichen Autounfall. Bereits Stunden vorher soll sie ihre Mutter umgebracht haben – und diesen Mord wollte sie ihrem Mann anhängen. Vor dem Landgericht Paderborn wird derzeit ein Prozess geführt, dessen Anklage jedem Autor eines Heftchenromans den Vorwurf der Übertreibung einbringen würde.

Doch die Frage lautet: Welche Schuld hat Sandra N. (47) wirklich auf sich geladen? Für Sportwetten, meist ging es um Tennisspiele, soll sie 173.000 Euro verzockt haben – für die Frau, die als Angestellte in der Kreisverwaltung Borchen im Landkreis Paderborn etwa 2000 Euro netto verdiente, eine enorme Summe. Und laut Anklage auch das Mordmotiv: Denn ihre Wetten finanzierte sie mit zig Krediten, die Polizei stieß bei den Ermittlungen auf fast 90 Bankkonten der Frau, darunter viele Kreditkonten. Belastet war auch das Haus – und auch mit ihrer Mutter hatte sie einen Kredit vereinbart, 610 Euro zahlte sie ihr monatlich zurück.

Über die Mittelplanke geklettert

Mit einem Mord, so die Staatsanwaltschaft, wollte sich Sandra N. von dem Schuldenberg befreien und erschlug, um an ihr Erbe zu gelangen, am 21. September 2019 ihre Mutter (76). Diese Tat wollte sie ihrem Ehemann Ralf L., einem Veterinär und aus der Vox-Serie "HundKatzeMaus" bekannten TV-Tierarzt, in die Schuhe schieben. Mit ihm fuhr sie am nächsten Tag nach Bayern, um am Schliersee zu urlauben.

Doch während der Fahrt kam es zu dem tragischen Verkehrsunfall. Sandra N. steuerte ihren schwarzen Hyundai auf der dreispurigen Strecke ganz links, vor ihr ein Ford Focus. Sie wechselte, um den Ford von rechts zu überholen, auf die mittlere Spur. Doch sie fuhr auf, der Ford schleuderte von der Fahrbahn und krachte gegen einen Baum. Sandra N. prallte mit ihrem Hyundai nun noch gegen einen Audi, auch die Fahrerin des Audis wurde verletzt.

Sie fuhr zunächst weiter, dann sprang sie aus dem Wagen, kletterte über die Mittelleitplanke und wurde auf der Gegenfahrbahn Richtung Würzburg von einem Auto erfasst. Zu diesem Zeitpunkt ließ sich Innenminister Joachim Herrmann zu einem Termin fahren; der CSU-Politiker schilderte später, dass er auf dem Rücksitz ein paar Akten bearbeitete, den Unfallhergang daher nicht gesehen hatte. Doch der verbeulte Ford an dem Baum fiel ihm auf. Er wählte mit seinem Handy die 112 und ließ seinen Fahrer den Dienstwagen anhalten.

Ein weiterer Autofahrer stoppte, mit ihm lief der Politiker zu dem Ford und befreite die 72 Jahre alte, schwer verletzte Beifahrerin aus dem demolierten Auto. Für den Fahrer (75) kam jede Hilfe zu spät.


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Kurz bevor es krachte, hatte Ralf L. die Augen geschlossen und sich auf dem Beifahrersitz des Hyundai entspannt. Doch plötzlich rannte seine Frau davon, auch die beiden Hunde des Paares waren erschrocken und bellten. Er band die Tiere an der Leitplanke fest, wollte nach dem Unfallgegner sehen und seine Frau suchen, als er sah, dass sie auf der Gegenfahrbahn von einem anderen Auto erfasst worden war. Ein Rettungshelikopter flog sie ins Nürnberger Südklinikum. Ein Schock, auch für Rolf L. (53).

Er nahm sich ein Zimmer in einer Pension in Altenfurt, am gleichen Tag wollte er seine Frau im Krankenhaus besuchen, aufgrund ihrer schweren Verletzungen war dies nicht möglich. Was er nicht ahnen konnte: Er würde sie erst ein Jahr später, im Oktober 2020, in einem Gerichtssaal wiedersehen.

Drei Monate unschuldig in U-Haft

In jener Nacht, gegen ein Uhr, drangen plötzlich Beamte des Nürnberger Spezialeinsatzkommandos in sein Zimmer ein und nahmen ihn fest. Rolf L. hatte keine Ahnung, wie ihm geschah. Er wurde vor einen Ermittlungsrichter geführt und mit einem Mordvorwurf konfrontiert. "Er wusste überhaupt nicht, was Sache war", so der Nürnberger Anwalt Michael Spengler, er war in jener Nacht für den Strafverteidiger-Notruf tätig.

Rolf L. wurde verdächtigt, nur wenige Stunden zuvor seine Schwiegermutter ermordet zu haben. Rolf L. landete in der U-Haft der Nürnberger JVA und wurde bald ins Gefängnis Bielefeld überstellt. Erst kurz vor Neujahr kam er wieder auf freien Fuß, nachdem der Verdacht durch Beweise gegen ihn entkräftet war.

Doch zu Ende ist der Alptraum für ihn noch nicht: Am 2. Oktober hat vor dem Landgericht Paderborn der Mordprozess gegen Sandra N. begonnen, seit einigen Wochen ist das Paar geschieden. Sie sitzt in U-Haft, er geht als Amtstierarzt wieder seiner Arbeit nach; bis vor einem Jahr fuhr er gemeinsam mit seiner Frau zur Arbeit. Doch nun ist er als Zeuge in dem Mordprozess gegen sie gefragt.

Brief sollte Verdacht auf Ehemann lenken

Staatsanwalt Fabian Klein ist überzeugt: Am 21. September 2019 betäubte Sandra N. ihre Mutter heimlich mit Medikamenten. Als sie schlief, schlich sie ins Schlafzimmer, legte ihr ein Kissen aufs Gesicht und setzte sich darauf. Als der Plan, die 76-Jährige zu ersticken, fehlschlug, zertrümmerte sie ihrem Opfer die Schädelknochen mit zwei Nachttischlampen. Sie verließ das Zimmer und schrieb einen Brief – und lenkte den Verdacht auf ihren Mann. Er habe die Mutter umgebracht, weil er "genervt" von ihr war, behauptete sie, die Zeilen adressierte sie an ihren Bruder Martin O.


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"Er will/wird mich auch umbringen", schrieb sie und gab sich ängstlich. "Er ist total krank." Den Brief ließ sie auf dem Esstisch zurück. Das Ehepaar hatte in Borchen gemeinsam in einem Haus mit der Mutter gewohnt. Als Martin O. am 22. September 2019 über den Unfall auf der A 3 informiert wurde und hörte, dass seine Schwester schwer verletzt im Nürnberger Südklinikum lag, wollte er persönlich mit seiner Mutter sprechen – und fand sie tot in ihrem Bett. Sie lag auf einem blutverschmiertem Laken, auf ihrem Hinterkopf zeigte sich eine große Wunde, er erschrak über die Blutspritzer an den Tapeten und auf dem Boden. Dann entdeckte er den Brief, den die Kripobeamten in Nordrhein-Westfalen zunächst für den Schlüssel zur Aufklärung des Mordes hielten. Doch dann kam alles ganz anders.

Ein gutes Jahr nach der Bluttat sind die Ermittlungen gegen Rolf L. zwar noch immer nicht endgültig eingestellt. Doch einer, der ein Vierteljahr unschuldig in U-Haft saß, geht auch als Zeuge nicht ohne Rechtsanwalt zum Gericht. So fuhr Michael Spengler, der den Beginn der Tragödie in Nürnberg hautnah miterlebte, als Zeugenbeistand nach Paderborn und hörte im Landgericht zu, als L. beschrieb, wie sich seine Ehe auflöste und er es zunächst nicht einmal merkte.

Handy kontrolliert

Ende 2017 habe Sandra 4500 Euro von ihm verlangt, er sollte seinen Anteil für die Miete im Voraus berappen. Er zahlte, dachte sich angeblich wenig dabei, doch weil seine Frau ständig an ihrem Handy klebte, wurde er misstrauisch. Im Frühjahr 2018 las er heimlich in einer ihrer Nachrichten nach, wie sie einer Freundin schrieb, sie wolle ein Haus auf Sylt kaufen – dabei war nicht einmal die Wohnung im Haus ihrer Mutter abbezahlt. Später gestand sie ihm ihren Hang zu Sportwetten, behauptete jedoch, alles im Griff zu haben.

Doch sie begann plötzlich zu protzen: Sie leistete sich einen 7er BMW und verschenkte an Freundinnen zu Weihnachten Champagner. Ein weiteres Jahr später, im Frühjahr 2019, beschloss Rolf L. auszuziehen. Er suchte eine eigene Wohnung, die Leidenschaft seiner Frau gehörte nur noch den Sportwetten. Und er änderte sein Testament. Anwalt Spengler: "Er hatte den Eindruck, er hätte sein Geld ja auch direkt an Tipico überweisen können."

Sandra N. schweigt. Voraussicht erst im Januar wird das Gericht ein Urteil sprechen. Wird sie als Mörderin verurteilt, gibt es nur eine mögliche Strafe: lebenslang. Seit dem Unfall auf der A3 hat Rolf L. mit seiner Frau nicht mehr gesprochen. Selbst am Tag der Scheidung sagten die Eheleute getrennt aus.