FCN-Eigengewächs Erras: Ablösefreier Wechsel an die Weser?

13.7.2020, 12:32 Uhr
Mit einer No-Look-Bogenlampe bereitete Patrick Erras das rettende Tor zum Klassenerhalt vor.

© Sportfoto Zink / Daniel Marr Mit einer No-Look-Bogenlampe bereitete Patrick Erras das rettende Tor zum Klassenerhalt vor.

Es läuft die sechste Minute der Nachspielzeit und der letzte Angriff des 1. FC Nürnberg: Ein langer Hieb aus der eigenen Abwehr findet Fabian Schleusener im gegnerischen Strafraum, per Kopf legt der Angreifer den Ball ins Halbfeld zurück. Der aufgerückte Patrick Erras schlägt den Ball mit dem Rücken zum Tor eher blind, wohlwollend gesagt mit einem No-Look-Pass, wieder hinein in die Box – und Schleusener grätscht, Schleusener stochert, Schleusener trifft und Schleusener rettet den Club! Der Held der Relegation ist zweifelsohne der Torschütze, doch auch der groß gewachsene Vorbereiter hat einen maßgeblichen Anteil am glücklichen Klassenerhalt des 1. FC Nürnberg – und das nicht erst durch seine starken Leistungen in den Duellen mit den Schanzern.

Mit seinen drei Saisontreffern in Karlsruhe (1:0), Bielefeld (1:1) und Kiel (1:1), allesamt nach Eckbällen erzielt, sicherte der 1,96-Meter-Hüne dem Club in der abgelaufenen Spielzeit 2019/20 insgesamt fünf wichtige Punkte. Dabei ist dies ursprünglich gar nicht seine Kerndisziplin: Diese findet sich in anderen Zonen des Spielfelds und ist weniger messbar aber viel bedeutender für den FCN: Sicherheit, Struktur, Souveränität, Stellungsspiel und Strategie. Wäre Erras ein Football-Spieler, dann wäre er ein Quarterback. Unter der Prämisse Safety First avancierte der kopfball- und zweikampfstarke Sechser besonders seit dem Re-Start zu einem der wenigen Stabilisatoren beim Club. Exemplarisch zeigte sich dies in den beiden Relegations-Duellen mit dem FC Ingolstadt, in denen er jeweils zu den besten Akteuren auf Seiten des FCN gehörte: Erras gewann wichtige Zweikämpfe, agierte abgeklärt, leidenschaftlich und passsicher, bediente im Rückspiel zunächst mustergültig Ishak (50.) und verbuchte letztendlich in der Nachspielzeit den bis dahin wohl wichtigsten Assist seiner Karriere.

Warum Werder Erras will - und warum der Club ihn braucht

Die bedeutende Bogenlampe könnte der wohl letzte Ballkontakt des Eigengewächses beim 1. FC Nürnberg sein: Berichten des kicker zufolge beschäftigt sich der SV Werder Bremen, der sich in dieser Saison ebenfalls den Klassenerhalt in der Relegation sichern musste, eingehend mit dem Sechser. Nach den Abgängen von Nuri Sahin, Kevin Vogt und möglicherweise auch noch Urgestein Philipp Bargfrede könnte ein Wechsel des ablösefreien Defensivakteurs an die Weser aus Sicht der Grün-Weißen durchaus Sinn ergeben. Der Club dürfte sich indes bemühen, den Sechser von einem Verbleib bei seinem Ausbildungsverein zu überzeugen – auch aus finanziellen Gründen: Ob seiner gefragten Qualitäten, seiner Statur und seiner Erfahrung trotz seines noch jungen Alters verfügt der 25-Jährige über einen hohen Marktwert, der dem FCN bei einem Abgang beispielsweise in der vergangenen sommerlichen Transferperiode - als angeblich traditionell gut betuchte Premier-League-Teams am Valznerweiher anklopften - sicherlich eine Ablöse von mindestens einer Million Euro in die Kassen gespült hätte. Es wäre demnach schlichtweg ärgerlich, einen solch talentierten und wertigen Spieler nach Ende der Vertragslaufzeit nun während der Corona-Krise für lau abgeben zu müssen.

Abgesehen von allen finanziellen Modalitäten bleibt aber auch im Profi-Fußball ein Aspekt nicht zu vernachlässigen: Identifikation. Und gerade das braucht der ruhmreiche Altmeister derzeit mehr denn je. Patrick Erras ist ein Eigengewächs, als gebürtiger Amberger ein Spieler aus der Region, ihn verbindet eine nun 13-jährige Liebes- und Leidenszeit mit dem Verein, in dessen Farben er zahlreiche Höhen und Tiefen durchlebte: Von seinem Pflichtspieldebüt im Oktober 2015 und der anschließenden Erfolgsserie über den Aufstieg in die Bundesliga bis hin zu seiner komplizierten Knieverletzung im März 2017, die ihn an den Rand der Invalidität führte. Erras hegt eine tiefe Verbundenheit zum Club. Dies bestätigte zuletzt auch sein früherer Jugend-Trainer Reinhold Hintermaier der Bild: "Ich weiß, dass Patrick extrem am FCN hängt und trotz zahlreicher Angebote aus dem In- und Ausland noch nirgendwo zugesagt hat." Schien vor wenigen Wochen der Abschied des Hünen ebenso wie jener des schwedischen Stürmers Mikael Ishak zuletzt so gut wie besiegelt zu sein, besteht nun wieder Resthoffnung auf einen Verbleib der beiden Akteure, die in der Relegation und im Saisonendspurt zu den Leistungsträgern im Spiel des FCN zählten. Grund dafür ist die Neubesetzung der Position des Trainers und möglicherweise auch jener des Sportvorstands.

Erst Baumann, dann Erras?

À propos Funktionäre. In Bremen versucht mutmaßlich ein Manager den Sechser an die Weser zu lotsen, dessen Name in Nürnberg nicht unbekannt ist: Frank Baumann. Die wohl einprägsamste und dramatischste Erinnerung an den früheren Defensivspieler datiert zurück auf den 29. Mai 1999. Im Fernduell kämpfte der Club mit Eintracht Frankfurt am letzten Spieltag der Bundesliga-Saison 1998/99 um den Klassenerhalt, als Baumann in der Schlussphase des Heimspiels gegen den SC Freiburg die Chance seines Lebens versemmelte und somit den Abstieg des Club besiegelte. Kurz darauf schloss er sich den Werderanern an. 21 Jahre später könnte sich die Geschichte wiederholen: Mit Erras könnte ein weiterer Mittelfeldspieler aus der Region, der ähnlich wie der gebürtige Würzburger Baumann durch seine Ruhe, Stabilität und Struktur im defensiven Zentrum zu überzeugen wusste, nach einem Abstiegskampf-Krimi vom Valznerweiher an die Weser wechseln. Der Unterschied: Baumann versiebte die große Chance, Erras verbuchte den wohl wichtigsten Assist seiner bisherigen Karriere.

50 Kommentare