Interview vor dem Final Four

HCE-Macher Bissel: "Wir wollen das ab jetzt einfach nur noch genießen"

Andreas Pöllinger

Sport-Redaktion

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16.4.2022, 23:50 Uhr
Macher, Fan, Gesicht des HCE: Carsten Bissel in der ersten Reihe. 

© Sportfoto Zink / Wolfgang Zink Macher, Fan, Gesicht des HCE: Carsten Bissel in der ersten Reihe. 

Herr Bissel, was machen Sie am 24. April um - sagen wir mal - 14.45 Uhr?
Carsten Bissel: Da bin ich aller Voraussicht nach noch in Hamburg. Und schau‘ mir das Finale an, am besten natürlich mit unserem HCE (lacht).

Am Vortag ist man gegen Magdeburg nur 60 Minuten entfernt von den Fleischtöpfen des internationalen Wettbewerbs. Vorausgesetzt Kiel gewinnt gegen Lemgo. Was macht Mut, diese Chance beim Schopf zu packen?
Carsten Bissel: Man darf nicht vergessen: Magdeburg ist in diesem Jahr die Übermannschaft, die nur vier Punkte und noch dazu gegen Flensburg und Kiel liegen gelassen hat. Es muss an diesem Tag bei uns schon alles und bei Magdeburg nicht wirklich viel stimmen, damit wir eine echte Chance haben. Da muss man ganz realistisch sein. Wir sind sehr glücklich, dass wir es überhaupt bis ins Final Four geschafft haben. Und das auch sehr verdient mit den Siegen gegen die Top-Teams aus Flensburg und Wetzlar in den vorausgegangenen Pokalrunden. Wir wollen das ab jetzt einfach nur noch genießen gemeinsam mit unseren mehr als 1000 Fans, die uns nach Hamburg begleiten werden. Und natürlich gilt der alte Spruch: Wenn man keine Chance hat, muss man sie nutzen.

Was braucht‘s zum Lösen einer solchen Herkulesaufgabe? Eine Kollektivanstrengung, Einzelspieler, einen Torwart, der über 20 Paraden bringt - was ist ihre Fantasie?
Carsten Bissel: Mein Wunsch wäre das Abbild des letzten Spiels in Magdeburg bis zur 59. Minute, in dem wir bis zur letzten Sekunde auf Augenhöhe mit dem Gegner waren. Und dann nur sehr unglücklich verloren haben durch einen Fehlwurf von Johannes Sellin und im Gegenzug durch einen Siebenmetertreffer des Magdeburger Superstars Magnusson nach der Schlusssirene. Da hätte es ja nur ein klein wenig anders laufen müssen und wir hätten gewonnen. Natürlich gehört zu einer Sensation auch ein sehr guter Torwart, der vielleicht 15 oder mehr Bälle hält.

Was würde sich beim vielfach formulierten Ansinnen, den nächsten Schritt zu gehen, ändern beim HCE von der Planung und der Struktur her, wenn man international spielen würde?
Carsten Bissel: Sehr wahrscheinlich nicht viel. Wir müssen schauen, dass wir uns fit machen für die Zukunft. Kurzfristige Erfolge dürfen uns nicht anfangen lassen, Verrücktes zu tun. In der Zeit nach den Corona-Restriktionen heißt es, mit Adleraugen auf das Budget zu schauen und vorsichtig zu planen. Da ist der Spielraum begrenzt.

Gut gemacht: Carsten Bissel klatscht mit Tobias Wannenmacher, dem Trainer der erfolgreichen U23, ab. 

Gut gemacht: Carsten Bissel klatscht mit Tobias Wannenmacher, dem Trainer der erfolgreichen U23, ab.  © Sportfoto Zink / WoZi

Beim Fitmachen für die Zukunft geht es ja auch um den Unterbau, der sich aktuell sehr erfolgreich präsentiert. Die U23: raus aus den Abstiegskalamitäten und Meister der dritten Liga. Die anderen Jugendmannschaften: ebenfalls zum Teil bayerischer Meiser, qualifiziert für die Junioren-Bundesliga…
Carsten Bissel: Das Invest in den Nachwuchs ist gut angelegt, wenn es uns gelingt, Spieler für die Bundesligamannschaft zu entwickeln. Da ist trotz aller Erfolge der Weg noch weit. Wir haben leider kein staatlich gefördertes Nachwuchsleistungszentrum wie Berlin, Magdeburg, Gummersbach oder Grosswallstadt. Das ärgert mich. Wir sind hier auf Gastfamilien, Partnerschulen und Gastropartner, aber auch den unbändigen Willen der jungen Spieler angewiesen, alles dafür zu tun, um die Bundesliga zu erreichen und auch ein paar Jahre ihrer Lebenszeit ohne große Vergütung in den Handball zu investieren. Andererseits müssen wir das tun, weil unsere Mittel auf dem Markt der Top-Spieler nicht ausreichen, um mit den wirklich guten Teams mitzuhalten. Wir sind aber ehrgeizig und wollen das mit jungen Leuten, die wir entdecken, dennoch schaffen. Das ist uns mit Metzner, Bissel, Theilinger, Zechel, Marschall, Rahmel, Link oder Firnhaber auch gelungen. Im Gegensatz zu Leipzig, Göppingen, Stuttgart oder Wetzlar, die ich zuvor auf Augenhöhe mit uns vermutet hatte und die ihre Budgets zuletzt deutlich ausweiten konnten, werden wir wahrscheinlich einen Schritt vorsichtiger sein müssen als in der Vergangenheit.
Die Lücke zur Bundesliga würde übrigens nicht zwingend kleiner werden, wenn man den europäischen Wettbewerb erreicht.


Was hat die Pandemie mit dem Verein gemacht? Und wie stellt sich die Situation da, wenn nun staatliche Unterstützung ausbleibt?
Carsten Bissel: Die Pandemie hat manches durcheinandergewirbelt, manches unerwartet entwickelt. In manchen Bereichen positiv, in manchen negativ, mit Aufs und Abs. Erfreulich: Trotz der Verletzungen und Ausfällen vieler Stammspieler haben die jungen Leute aus der dritten Liga bei uns die Fahne hochgehalten und in der letzten Saison überraschende Erfolge in der Bundesliga erzielt. Ich erinnere mich in diesen Tagen beispielsweise an den grandiosen Sieg gegen Magdeburg in Nürnberg. Und natürlich den großen Zusammenhalt innerhalb unserer Community mit unseren Partnern und Hardcore-Fans in der Coronazeit, den ich für einzigartig halte und auf den ich sehr stolz bin. Man merkt jetzt aber schon, wie schwer es gerade bei den Hallensportarten ist, die Zuschauerrückkehr zu moderieren und umzusetzen. Die staatliche Unterstützung, die alle großen Profisportarten bekommen haben, fällt jetzt weg. Die Zeiten, in denen alles ausgeglichen wurde und wir wirtschaftlich damit überleben konnten, sind vorbei. Wir arbeiten hart daran, auf einen Weg zurückzukehren, auf dem man sich dauerhaft wohlfühlt und verantwortlich arbeiten kann. Das ist aus der Pandemie kommend unsere nächste Aufgabe. Künstliche Unterstützung fällt jetzt weg und wir sind wieder im Real Life.

Zurück zur Fantasie: Gab es im Herbst 2010 auch schon die Fantasie, im Final Four zu stehen?
Carsten Bissel: 2010 wusste ich überhaupt nicht, dass es ein Final Four in Hamburg gibt, so dass ich diese Überlegungen gar nicht anstellen konnte. Ich hatte mit Handball bis dahin nicht wirklich viel zu tun. 2010 überragte das sehr ambitionierte Ziel alles, den völlig überschuldeten Verein irgendwie wirtschaftlich zu retten. Zum Sportlichen gab’s da überhaupt keine Gedanken. Und schon gar nicht zur Bundesliga oder gar dem Final Four. Gedanken zur sportlichen Entwicklung kamen erst 2011 langsam auf mit der damals sensationellen Qualifikation für die 2. Bundesliga. Da waren die Ideen aber auch nur, sich in dieser neu geschaffenen Profiliga als besserer Amateurverein zu halten, der wir damals waren.

Der HCE ist nun sogar in der Bundesliga etabliert. Auf der Kabinentür und Schlussmotivation für die Mannschaft wird dort als Slogan stehen: “Zeit, Geschichte zu schreiben“.
Carsten Bissel: Man muss bedenken, dass hier antreten: Der Titelverteidiger und ehemalige deutsche Meister aus Lemgo, der amtierende Pokalsieger also. Der Champions-League-Sieger von 2020 und ichweißnichtwievielmalige Rekordmeister aus Kiel. Der ehemalige Champions-League-Sieger, Meister und vor allen Dingen aktuelle Tabellenführer der Bundesliga aus Magdeburg. Mehr geht nicht. Der aktuell beste Verein, der Tabellenzweite und der Titelverteidiger. Und ein vierter Verein, der noch gar nichts gewonnen hat. Bei dem auf dem Briefbogen, wo sich die Anderen von Grafikern neuen Platz schaffen lassen müssen, allenfalls ein zweimaliger Aufstieg in die 1. Liga stehen könnte, aber nicht einmal steht. Deswegen ist der Slogan passend.

Keine Option für Carsten Bissel: das Mauss-Kostüm. 

Keine Option für Carsten Bissel: das Mauss-Kostüm.  © Sportfoto Zink / Wolfgang Zink

Welche Seite von Carsten Bissel wird man am 23. April kennenlernen, die man davor vielleicht noch nicht so kannte.
Carsten Bissel: Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich werde aber nicht im Mauss-Kostüm auftreten.

Wie wichtig war eigentlich der Viertelfinal-Sieg gegen Gummersbach? Auch vor dem Hintergrund des Trainerwechsels zu Jahresbeginn.
Carsten Bissel: Weihnachten glaubten wir, dass wir die Erwartungen auf Dauer nur erfüllen können, wenn wir uns auf der Trainerposition neu aufstellen. Wenn ich wir sage, meine ich, dass das eine breite Diskussion unter Einbeziehung absoluter Fachleute gewesen ist. Das Für-und-Wider abwägend haben wir uns am Ende dafür entschieden, das Experiment mit einem Trainernovizen abzubrechen, auch wenn es uns in der Seele weh getan hat. Der kleinste gemeinsame Nenner, der daraus entstehen musste, waren die Qualifikation fürs Final Four durch den Pokalsieg in Gummersbach und die Punkte gegen Lübbecke. Das sahen wir in der vorherigen Konstellation gefährdet, das mussten wir erreichen und das und weitere Punkte gegen die Rhein Neckar Löwen und den Bergischen HC hat Raúl Alonso erreicht. Und damit ist uns ein ganz großer Stein vom Herzen gefallen. Wir glauben fest daran, dass es die richtige Entscheidung war und eine sportliche Entwicklung unter dem Workaholic Raúl Alonso zu merken sein wird, auch wenn es im laufenden Spielbetrieb natürlich nicht einfach ist, Trainingsmethoden und die Spielphilosophie zu ändern. Am Ende wird man sehen, ob das alles richtig oder falsch war. Vielleicht schon am nächsten Samstag in Hamburg.

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