VAR-Wahnsinn in Darmstadt: Strittige Szene beim FCN-Erfolg

7.2.2021, 05:56 Uhr
Schiedsrichter Martin Thomsen hatte in einer Szene zwischen Darmstadt und Nürnberg kein gutes Händchen. Die Review Area hätte helfen können.

© Sportfoto Zink / Wolfgang Zink, Sportfoto Zink / Wolfgang Zink Schiedsrichter Martin Thomsen hatte in einer Szene zwischen Darmstadt und Nürnberg kein gutes Händchen. Die Review Area hätte helfen können.

Martin Thomsen heißt der Mann an der Pfeife bei der Partie des 1. FC Nürnberg in Darmstadt, ist 35 Jahre alt und kommt aus Kleve am Niederrhein. Über die 90 Minuten inklusive Nachspielzeit macht der DFB-Schiedsrichter beim 2:1-Erfolg des Club gegen die Lilien einen weitestgehend guten Job. Weitestgehend, weil er in zwei Situationen die vermeintlich falsche Entscheidung trifft, was zwar nach der verrückten Schlussphase ohne schwerwiegende Folgen bleibt, jedoch vermieden hätte werden können - und zwar mit dem richtigen Einsatz des Videoschiedsrichters, zumindest in einer der beiden Situationen. VAR, ausgeschrieben Video Assistant Referee, ist in der Begegnung am Böllenfalltor Bibiana Steinhaus, die aus Köln das Spiel beurteilt und im Notfall eingreifen kann. Aber im Detail...

In der ersten Aufreger-Situation nimmt Christian Mathenia nach einem Rückpass von Lukas Mühl den Ball mit den Händen auf. Es hätte also einen indirekten Freistoß für Darmstadt im Club-Strafraum geben müssen - gab es aber fälschlicherweise nicht. Dies bleibt von der VAR-Thematik jedoch unberührt, da Freistöße, Einwürfe und Eckbälle von der Überprüfung durch den Video-Assistenten ausgenommen sind. Also kann die Situation für Darmstadt ärgerlicherweise unter "dumm gelaufen" abgestempelt werden.

Bis dahin bleibt die Entscheidung durch Thomsen ohnehin folgenlos, es ging mit 0:0 weiter und Darmstadt hat - auch wenn ihnen der Freistoß in bester Lage fraglos zugestanden werden hätte müssen - weiterhin die Möglichkeit gehabt, das Spiel mit eigenen Mitteln auf seine Seite zu ziehen. Eine direkte Torchance ist den Lilien hierbei sowieso nicht genommen oder unberechtigt zu- oder abgesprochen worden.

Hand oder nicht Hand? So entscheiden VAR und Schiedsrichter

Für den Club fällt im weiteren Spielverlauf das 1:0 - nebenbei das Liga-Premieren-Tor von Relegationsheld Fabian Schleusener - und der 1. FC Nürnberg nähert sich dem Ende seiner 2021 seit sechs Spielen anhaltenden Sieglos-Serie. Dann geht es aber in eine verrückte und kuriose Schlussphase. In der 87. Minute gibt es Freistoß für Darmstadt, das dafür kämpft, noch den Ausgleich gegen die Franken zu erzielen. Aus 18 Metern Distanz zum Club-Tor schießt Marvin Mehlem den Ball in die FCN-Mauer - die Situation ist aber noch nicht geklärt. Es bleibt gefährlich. Christian Mathenia lässt den Ball beim Abwehrversuch fallen und Aaron Seydel bekommt die Chance. Club-Verteidiger Oliver Sorg, der in der ersten Halbzeit für den verletzten Kapitän Enrico Valentini ins Spiel gekommen ist, blockt den Schuss nahe der Torlinie und verhindert den möglichen Ausgleich.

Doch dann der Pfiff: Martin Thomsen zeigt auf den Elfmeterpunkt und Oliver Sorg sieht die Rote Karte wegen absichtlichen Handspiels. Aufregung beim Club. Sorg beschwert sich über die Entscheidung - und das vermeintlich zu Recht. Der Rechtsverteidiger hat den Schuss von Seydel nämlich mit der Brust oder der Schulter bei angelegtem Arm abgeblockt und nicht die Hand oder den Arm zur Hilfe genommen.


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Seit der Einführung des VAR in der 1. und 2. Bundesliga (zur Saison 2017/18 bzw. 2019/20) ist so ein falscher Pfiff auch kein großes Problem mehr und hätte auch keine weitern Folgen, weil die Situation in Köln noch einmal angeschaut wird - so auch in diesem Fall. Der Unterschied diesmal: nach kurzer Wartezeit - für die Mannschaften, die Fans vor den Fernsehgeräten und natürlich Oliver Sorg gefühlt eine Ewigkeit - bestätigt Videoschiedsrichterin Bibiana Steinhaus aber die Entscheidung von Martin Thomsen und erkennt scheinbar keinen Fehler. Das Spiel geht mit Elfmeter weiter, Fabian Holland verwandelt den Strafstoß und gleicht für die Lilien aus. Glück für den Club - und nichts anderes war das -, dass Nicolai Rapp in der zweiten Minute der Nachspielzeit einen Abschlag von Mathenia über seinen eigenen Torhüter hinweg zum 2:1 für Nürnberg per Kopf ins eigene Tor befördert.

Diskussionsstoff bleibt

Was aber nach der Partie trotz der drei Punkte für den Altmeister bleibt, ist Diskussionsstoff und die Tatsache, dass Schiedsrichter Martin Thomsen in der Situation, in der er auf den Punkt gezeigt hat, nicht gut ausgesehen hat, weil er sich als endgültiger Entscheider die Szene nicht auf dem Bildschirm selbst noch einmal angeschaut hat.

Bei der Kritik geht es auch keineswegs darum, dass Fehler in einer so brisanten Spielphase und generell in einem so schnellen Spiel wie Fußball passieren können und dürfen, sondern darum, dass die Möglichkeit des VAR nicht vernünftig genutzt wird und dadurch die Chance einen Fehler aufzuheben verstrichen ist. Wie schon im Spiel des BVB gegen Paderborn im DFB-Pokal-Achtelfinale, wo sich SCP-Trainer Baumgart über den Schiedsrichter aufregte, weil er sich das umstrittene Dortmunder Siegtor nach einer minutenlangen Überprüfung in Köln nicht mehr selbst anschaute, bleibt auch hier die Frage im Raum stehen: Warum wirft der Schiedsrichter nicht selbst ein Auge auf die strittige Szene und nimmt Kritikern den Wind aus den Segeln? Unabhängig davon, ob er seine Entscheidung bestätigt oder revidiert hätte, so behält die Rote Karte für Oliver Sorg einen faden Beigeschmack - weil sie wohl nicht berechtigt ist und der Schiedsrichter die Möglichkeit, seine Entscheidung zu überprüfen, zu festigen oder zu verbessern, ausgelassen hat.

Oliver Sorg wird dem Club dadurch im nächsten Spiel Rot-gesperrt fehlen, was der einzige Nachteil für Nürnberg ist, da das Spiel ja glücklicherweise noch mit einem rot-schwarzen Sieg endete. Die Aufregung bleibt aber - wohl auch zu Recht.

Prinzipiell ist der Videoschiedsrichter für den Fußball eine gute Errungenschaft und Weiterentwicklung, weil er in strittigen Szenen die Findung der richtigen Entscheidung erleichtern kann und in vielen Fällen auch erst möglich macht. Wenn aber, wie in diesem Spiel, so damit verfahren wird, ist es verständlich, warum Fans und Vereine sich aufregen und die Eingriffe des VAR hinterfragen. Andere Sportarten machen es dahingehend vor, wie man den Videoschiedsrichter oder die Möglichkeit, sich Szenen noch einmal anzuschauen, besser nutzen kann - und das vor allem mit weniger Zündstoff. Ein gutes Beispiel hierfür wären Weltmeisterschaften im Handball, wo sich die Referees unklare Situationen selbst auf dem Bildschirm anschauen können, wenn sie sich nicht sicher sind.

DFB: VAR greift im Fußball in vier Fällen ein

Im Fußball greift der VAR in vier Fällen ein: bei der Erzielung eines Tores, bei Elfmetern, bei Roten Karten und bei der Verwechslung eines Spielers. Als Voraussetzung führt der DFB (Deutscher Fußball-Bund) hierbei auf, dass aus Sicht des Video-Assistenten "eine klare und offensichtliche Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf dem Platz vorliegt", sonst darf der VAR nicht eingreifen. Laut DFB wird es auch weiterhin Szenen geben, die nicht eindeutig aufzulösen sind - hier kann wohl die Situation mit dem Elfmeterpfiff und der Roten Karte einkategorisiert werden.

"Der Video-Assistent soll den Fußball ein Stück weit gerechter machen", heißt es weiter vom DFB. Dafür ist der VAR eindeutig eine gute Möglichkeit, ob der Schiedsrichter auch von sich aus zum Bildschirm gehen darf und sich eine Szene ohne VAR-Eingreifen anschauen kann, bleibt in der Erklärung des DFB zum Video-Assistenten zwar offen, klar ist aber, dass der Schiedsrichter den VAR um Hilfe bitten kann. In der Erklärung steht: "...diese Möglichkeit besteht auf einem Video-Monitor am Spielfeldrand in der Review-Area. In diesem Fall wird hier genau die Kamera-Perspektive eingespielt, die der Video-Assistent für seine Bewertung genutzt hat." Die Situation in der Partie des FCN gegen die Lilien hätte Thomsen, trotz aller Unklarheit in der Thematik, anschauen können.

Grundsätzlich wäre das sinnvoll, die Möglichkeit sich Szenen selbst anzuschauen und mit Videobildern einzuschätzen, zu nutzen. Dadurch hat der Schiedsrichter selbst die Möglichkeit, sich in seiner Entscheidung zu vergewissern und in unklaren Situationen die richtige Entscheidung zu treffen, ohne dass er aus Köln einen Hinweis bekommt, denn die letztendliche Entscheidung bleibt auch trotz VAR beim Feld-Referee. Entweder sollte der DFB an dieser Stelle klarere Anweisungen geben, wie verfahren werden soll oder die Schiedsrichter sollten den Mut und auch die Einsicht haben, den Blick auf den Bildschirm zu wagen. Das ist nämlich kein Akt von Schwäche, sondern ein Zeichen von Selbstreflexion und erspart im Zweifelsfall auch böse und teils unflätige Kommentare von Fußball-Fans im Internet.

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