Vielleicht merkt's ja keiner

Aus Hartz IV wird "Bürgergeld": Die Ampel-Koalition betreibt Etikettenschwindel

23.10.2021, 05:55 Uhr
Kleine Verbesserungen statt Systemwechsel: Die künftigen Ampel-Partner halten an Hartz IV fest, auch wenn die Grundsicherung künftig anders heißt. 

© Chris Emil Janssen via www.imago-images.de, imago images/Chris Emil Janßen Kleine Verbesserungen statt Systemwechsel: Die künftigen Ampel-Partner halten an Hartz IV fest, auch wenn die Grundsicherung künftig anders heißt. 

In gewisser Weise stimmt es sogar: Hartz IV muss weg. Der Begriff ist zum Stigma für all diejenigen geworden, die auf staatliche Hilfe angewiesen sind. Man kann noch heute darüber streiten, ob es der Langenscheidt-Verlag 2009 tatsächlich nötig hatte, "hartzen" zum Jugendwort des Jahres zu wählen und - als wäre das schon nicht genug der Abwertung - dann auch noch die Erklärung mitzuliefern, das Verb stünde für "rumhängen". Die gesellschaftliche Wahrnehmung von Menschen in Grundsicherung traf die Jugendwort-Kür zweifellos.

Da ist es scheinbar folgerichtig, wenn die Ampel-Koalition die Grundsicherung nun durch ein "Bürgergeld" ersetzen will. Es soll, so heißt es im Sondierungspapier, "die Würde des und der Einzelnen achten" (und, was freilich nicht im Papier steht: der SPD in Zukunft parteiinterne Dauerdebatten um das Erbe Schröders ersparen). "Bürgergeld", das klingt nach einer Leistung, auf die Bürger Anspruch haben, nicht nach Almosen für Arme.

Dabei wird es nicht lange dauern, bis auch dieser neue Begriff zum Stigma wird. Auch "Hartz" hatte zu Beginn ja nicht den despektierlichen Klang, der da heute mitschwingt - der Begriff geht schlicht auf den Mann zurück, der die Arbeitsmarkt-Reformen damals mit erdacht hat, Peter Hartz. Ein neues Etikett hilft also gar nichts, wenn es nicht mit einer echten Reform einhergeht - die aber nicht geplant ist. Rot-Grün-Gelb betreiben also gewissermaßen Etikettenschwindel - ob's einer merkt?

Zur Wahrheit gehört aber auch: Für eine Abschaffung von Hartz IV fehlt es sowohl an Mehrheiten als auch an Alternativen. Das liegt daran, dass der Prozess des Aushandelns der berechtigten Interessen derjenigen, die Hilfe durch den Sozialstaat brauchen, und den ebenso berechtigten Interessen jener, die diese Hilfe mit ihren Steuern bezahlen, höchst kompliziert ist. Das Prinzip des Förderns und Forderns ist dabei ein durchaus vernünftiges Resultat dieses Aushandelns in Deutschland. Es wäre SPD und Grünen zu wünschen, das auch selbstbewusst zu formulieren.

Darüber hinaus ist das, was im Sondierungspapier steht, ja durchaus vernünftig: "Großzügige" Regelungen bei der Frage, wie viel Erspartes man aufbrauchen muss, bevor man überhaupt Grundsicherung bekommt, sollen geprüft, Zuverdienstmöglichkeiten verbessert werden.

Und: "Unkompliziert zugänglich" soll das Bürgergeld ausgezahlt werden. Mit ein bisschen Optimismus lässt sich daraus vielleicht ableiten, dass endlich Schluss sein könnte mit dem Gefühl, das manche Betroffene schildern: dass der Staat mit ihnen, die ohnehin kaum etwas haben, um jeden Cent ringt. Es wäre ein Anfang, der allen hilft: Denn dann hätten die Jobcenter-Mitarbeiter, die mit der komplizierten Abrechnung betraut sind, endlich mehr Zeit für ihren eigentlichen Job: Menschen in Arbeit zu bringen.

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