Herrmann im Interview: "Die Gefahr von Rechts hat man unterschätzt"

17.12.2020, 21:44 Uhr
Joachim Herrman hält den Rechtsextremismus heute für gefährlicher als vor 40 Jahren.

© Matthias Balk, dpa Joachim Herrman hält den Rechtsextremismus heute für gefährlicher als vor 40 Jahren.

Herr Minister, wie haben Sie diese schreckliche Tat erlebt?

Joachim Herrmann: Shlomo Lewin und Frida Poeschke haben an der Ebrardstraße in Erlangen gewohnt. Meine Eltern sind 1966 in das Haus direkt gegenüber gezogen. Wir waren von 1966 bis 70 unmittelbare Nachbarn. Ich habe sie als gute Nachbarn in Erinnerung und war auch bei ihnen zu Hause. Shlomo Lewin war sehr aktiv in der Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Deshalb war das für mich nicht irgendein Mord, für mich war das unfassbar.


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Alles rund um die Tat hat mich stark interessiert, ich hab das intensiv verfolgt. Erste Spekulationen schossen ins Kraut. Es kamen aber bald Überlegungen auf, dass das Rechtsradikale gewesen sein könnten. In München war man aber in erster Linie auf München und das drei Monate zuvor begangene Oktoberfestattentat konzentriert. Erst in den vergangenen zehn Jahren kristallisierte sich mehr und mehr ein Zusammenhang beider Taten mit der Wehrsportgruppe Hoffmann heraus.

Es gibt also den Zusammenhang zwischen dem Oktoberfestattentat und dem Erlanger Doppelmord?

Herrmann: Eindeutig. Gundolf Köhler (Oktoberfest-Attentäter; Anm. d. Red.) hatte einen Bezug zur Wehrsportgruppe. Er ist mutmaßlich in seinem rechtsradikalen Denken durch die Wehrsportgruppe beeinflusst worden. Die Behauptung aber, dass es weitere Mitwisser gab – das war auch kürzlich das Ergebnis der Bundesanwaltschaft – lässt sich nicht beweisen. Es ist allerdings auch nicht ausgeschlossen. Das aber weiß man: Uwe Behrendt, der Lewin und Poeschke in Erlangen mutmaßlich getötet hatte, gehörte mehr noch als Köhler eindeutig der Wehrsportgruppe Hoffmann an. Wenn man das alles heute rückblickend betrachtet, kommt man zu dem Ergebnis, dass die Gefährlichkeit der Wehrsportgruppe damals in Bayern eindeutig unterschätzt worden ist.


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Franz-Josef-Strauß als Ministerpräsident hat die Gruppe damals für eine Spinner-Truppe gehalten, die man nicht besonders ernst nehmen müsse. Als der damalige Bundesinnenminister Gerhard Baum die Wehrsportgruppe im Frühjahr 1980 verboten hatte, hielt Strauß das für völlig überzogen. Im Nachhinein betrachtet war es gut, dass sie verboten wurde. Baum hat mir übrigens kürzlich einen Brief geschrieben und sich dafür bedankt, dass sich jetzt in Bayern ein Minister hinstellt und sagt: Das muss man heute anders sehen, als es damals gesehen worden ist.

Verbote, Radikalisierung und Überwachung

Kann es sein, dass sich aufgrund des Verbotes die Wehrsportgruppe weiter radikalisiert hatte?

Herrmann: Das ist nicht auszuschließen. Gut möglich, dass dieses Verbot manche Rechtsextremen angestachelt hat. Nach dem Motto: Jetzt müssen wir zur Tat schreiten. Der mutmaßliche Mörder von Shlomo Lewin und Frieda Poeschke kam später im Libanon ums Leben. Die Wehrsportgruppe hatte ihre Aktivitäten dorthin verlagert. Palästinensische Gruppen arbeiteten zu dieser Zeit sowohl mit Linksextremisten, insbesondere mit der RAF, als auch mit der rechtsextremen Wehrsportgruppe zusammen. Sie haben die Ausbildung der Wehrsport-Leute im Libanon mitfinanziert. Aus heutiger Sicht eine unvorstellbare Entwicklung. Doch in der deutschen Öffentlichkeit stand damals die RAF im Vordergrund, die West-Deutschland mit schrecklichen Attentaten überzog. Ich glaube, dass man die Gefahr, die vom Rechtsextremismus ausging, auch deshalb deutlich unterschätzt hat.

Wenn also so ein Verbot erlassen wird, ist es doch zwingend, die Entwicklung so einer Gruppe genauer zu observieren.

Herrmann: Heute ist es nach einem Verbot etwa von extremistischen Gruppen die Regel, Personen, die solchen Zirkeln angehörten, besonders gut zu überwachen. Wenn wir eine Gruppe formal auflösen und illegale Gegenstände beschlagnahmt werden, werden in der Regel danach Überwachungsmaßnahmen fortgesetzt. Wir wollen wissen, wie die Gruppe auf das Verbot reagiert. Auch deshalb, um rechtzeitig zu erkennen, ob da Ersatzorganisationen geschaffen werden. Wir können nicht mehr hundertprozentig nachvollziehen, was damals letztendlich gemacht worden ist. Wir haben jedenfalls daraus gelernt, dass wir den Rechtsextremismus nicht unterschätzen dürfen.


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An der Ermittlungsarbeit wurde Kritik geübt, so soll die Polizei erst Monate nach dem Doppelmord die Besitzerin der Sonnenbrille, die am Tatort gefunden wurde, aufgesucht haben – sie gehörte der Lebensgefährtin von Karl-Heinz Hoffmann.

Herrmann: Die Ermittlungen liefen klarer in die Richtung, dass Rechtsextreme dahinterstecken könnten, als das drei Monate vorher beim Oktoberfestattentat der Fall gewesen war. Aber wir haben heute auch ganz andere Ermittlungsmethoden als damals: Welche Handys waren in Tatortnähe eingeloggt? Wem gehören die gesicherten DNA-Spuren? Insofern ist man damals dann doch vergleichsweise schnell auf die richtige Spur gekommen, vielleicht auch, weil es räumlich nahelag. Und weil die Wehrsportgruppe Hoffmann auch stärker im Bewusstsein der Sicherheitsbehörden war.

"Eine schreckliche Kontinuität"

Rechtsterrorismus ist heute, nach den NSU-Morden, eine massive Bedrohung für Gesellschaft und Staat. Ist es dieselbe Bedrohungslage wie in den 80ern?

Herrmann: Insgesamt schätze ich die Gefährdung heute höher ein als sie damals war. Auch wenn wir mit Blick auf die Zahl der Toten beim Oktoberfestattentat feststellen müssen, dass das der größte Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik war. Wir haben es heute mehr mit Einzeltätern zu tun: der Mord am Kassler Regierungspräsidenten, der Anschlag auf die Synagoge in Halle, der Anschlag in Hanau. Wir erleben aktuell gewaltbereite Einzeltäter und Gefährder, obwohl eine extreme Organisation nach der anderen verboten wird. Auch die vielen illegalen Waffen, die bei Durchsuchungen immer wieder zutage gefördert werden, sind ein Indiz. Die Gefahr von Rechts ist heute größer. Sie ist in der Ideologie auch anders. Da sind Leute wie die Reichsbürger, die bestreiten, dass es diesen Staat überhaupt gibt.


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Wir stellen fest, dass es auch mehr gegen diesen Staat und seine Institutionen geht. Da kommen wir in eine Dimension wie in der Weimarer Republik. Wir haben jetzt wieder eine Situation, in der Rechtsextremisten einen Regierungspräsidenten ermorden. Das hat es lange Zeit so nicht gegeben. Durch all diese Phasen zieht sich jedoch eine schreckliche Kontinuität: der Antisemitismus, der Rechtsradikalismus damals wie heute prägt.

Angriffe auf jüdische Bürgerinnen und Bürger sorgen in jüngster Zeit für großes Entsetzen. Was muss getan werden, um solche Gewalttaten zu verhindern?

Herrmann: Wir müssen als Staat, der für die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger zuständig ist, noch mehr für den Schutz der jüdischen Einrichtungen tun. Wir haben ja ein hohes Millionen-Programm aufgelegt, mit dem auch für Sicherheitsmaßnahmen unmittelbar an der Synagoge in Nürnberg gesorgt wird wie auch an vielen anderen Orten. Wir müssen aber auch Antisemitismus in der Gesellschaft bekämpfen. Das hat sich nicht überholt. Wir dachten vielleicht in den 70er und 80er Jahren, dass sich das, wenn Alt-Nazis verstorben sind, von selber erledigt. Das war ein Irrtum.

Erschreckend ist, wenn plötzlich behauptet wird, dass Juden für die Verbreitung des Coronavirus verantwortlich sind. In den sogenannten Sozialen Medien rollt eine ganz neue Welle der Verbreitung antisemitischer Vorurteile und Verunglimpfungen heran. Damit muss man sich auseinandersetzen. Das ist nicht nur eine Herausforderung für den Staat, da sind alle gefordert. Wir müssen uns dieser Gefahr klar entgegenstellen.

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