Corona: "Die Kunden werden völlig kirre gemacht"

20.3.2020, 05:58 Uhr
Coronavirus: Das sagt Hubert Thiermeyer, Fachbereichsleiter Handel bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Bayern, zur aktuellen Situation im Handel.

© Rolf Vennenbernd/dpa Coronavirus: Das sagt Hubert Thiermeyer, Fachbereichsleiter Handel bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Bayern, zur aktuellen Situation im Handel.

Herr Thiermeyer, Sie haben kürzlich den geringen Schutz der Beschäftigten im Lebensmittel-Einzelhandel gegen das Coronavirus beanstandet. Ist es inzwischen besser geworden?

Thiermeyer: Die Unternehmen kommen ihrer Verantwortung für den notwendigen hygienischen Schutz, aber auch Schutz vor Überlastung der Beschäftigten in unterschiedlicher Weise nach. Es gibt Unternehmen, bei denen wir wirklich besorgniserregende Zustände verzeichnen.

Was verstehen Sie unter besorgniserregenden Zuständen?

Thiermeyer: Die Kunden sehen es relativ schnell, ob die Beschäftigten mit der Situation allein gelassen werden oder sie mit notwendigen Hygienemaßnahmen ausgestattet sind. Ob es Hinweisschilder gibt, dass man Abstand untereinander und zur Verkäuferin halten soll. Den allgemein anerkannte Mindestabstand von 1,50 Meter von Person zu Person halten wir für zentral. Es gibt aber auch Unternehmen, die mit wirren Anweisungen operieren und 75 Zentimeter für ausreichend erklären. Es gibt da wirklich alles.


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Sie haben vor Überlastung der Mitarbeiter in den Lebensmittelgeschäften gewarnt. Wie real ist das?

Thiermeyer: Es gibt im Handel nicht nur die Beschäftigten im Verkauf und an der Kasse. Hohe Belastung herrscht derzeit auch im Lebensmittel-Großhandel, wo ausufernde Schichten gefahren werden. Wir halten das Problem der Überlastung für zentral, weil es das Immunsystem berührt.

Wenn man sich die Verläufe von Corona-Erkrankungen ansieht, dann spielt es eine zentrale Rolle, ob das Immunsystem stark oder schwach ist. Neben den typischen Risikogruppen spielt die Arbeitsbelastung eine sehr zentrale Rolle. Auch gesunde Menschen können erkranken, wenn sie einer exorbitanten Arbeitsbelastung und einem negativen Stress ausgesetzt sind.

Wir kennen das von Marathonläufern, deren Immunsystem nach einem Lauf im Keller ist, obwohl sie ansonsten kerngesunde Menschen sind. Die Belastungssituation im Lebensmittelhandel ist derzeit durchaus vergleichbar. Wenn sich dort Menschen anstecken, ist das ein ziemliches Problem. Deshalb muss man nicht nur die körperliche, sondern auch die zeitliche Belastung der Beschäftigten im Auge behalten.

Allergische Reaktion auf Ausweitung der Öffnungszeiten

Was halten Sie davon, dass die Ladenöffnungszeiten in Bayern in der Corona-Krise ausgeweitet werden?

Thiermeyer: Wir reagieren allergisch auf die sinnfreie Ausweitung der Öffnungszeiten bis 22 Uhr und auf die Einbeziehung des Sonntag. Hier werden notwendige Ruhe- und Regenerationsphasen attackiert. Das ist ein Angriff auf das Immunsystem und gefährdet nicht nur die Beschäftigten, sondern für uns alle die Daseinsvorsorge.


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Wie kann man diese Überlastung kurzfristig abbauen?

Thiermeyer: Manche Arbeitgeber versuchen den Ansturm, der zur Zeit auch durch Hamsterkäufe entsteht, durch Aushilfen abzufedern. Man geht auf Beschäftigte zu, die in anderen Einzelhandelsbranchen unverdientermaßen in Kurzarbeit geschickt werden oder ohne Beschäftigung sind.

Zum anderen kann man versuchen, die zeitliche Belastung in Grenzen zu halten, also Pausen- und Ruhezeiten einzuhalten. Die Gefahr besteht, dass man durch ein, zwei Stunden Mehrarbeit am Tag die Beschäftigten in die Krankheit drängt. Und damit haben wir insgesamt verloren.

Ein Online-Versandkonzern, der momentan viel zu tun hat, wirbt derzeit gezielt Arbeitnehmer aus anderen Branchen, die jetzt beschäftigungslos sind, für eine vorübergehende Tätigkeit an. Wäre das ein Weg?

Thiermeyer: Das machen Handelskonzerne schon. Es macht immer Sinn und funktioniert auch jetzt. Der Einzelhandel arbeitet schon immer hoch flexibel. Seit jeher gibt es Umsatzschwankungen, die man mit solchen Ausnahmen auszugleichen versucht. Entlastung kann aber auch geschaffen werden, indem man genauer hinsieht, was derzeit notwendig ist und was nicht.

 

 

 

Kunden sollen zuweilen ausrasten. Kommt das jetzt häufiger vor?

Thiermeyer: Wir erleben, dass Kunden durch "Fake News" völlig kirre gemacht werden. Wo es klare und sinnvolle Anweisungen gegen Hamsterkäufe gibt, werden leider die Beschäftigten beim Durchsetzen dieser Anweisungen trotzdem allein gelassen und müssen den Hamsterkäufer überzeugen, das zu unterlassen.


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Dort kommt es leider immer wieder zu Übergriffen und auch zu Handgreiflichkeiten. Diese Fälle nehmen zu, wenn sie auch weiterhin Ausnahmen bleiben. Aber ein solches Vorkommnis wirkt auf den betreffenden Beschäftigten einen ganzen Tag belastend.

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