Geisterspiele und der FCN: Der Club kennt den Spuk

12.5.2020, 05:47 Uhr
Geisterstunde auf dem Tivoli: So liefen Nürnberger und Alemannen damals ein.

Geisterstunde auf dem Tivoli: So liefen Nürnberger und Alemannen damals ein.

Die Vorgeschichte: Das Geisterspiel war die Neuansetzung jener Partie, die Alemannia Aachen am 24. November 2003 unter skandalösen Umständen mit 1:0 gewonnen hatte. Nach einer Ampelkarte für Aachens Stürmer Erik Meijer (72.) kochte die Stimmung auf den Rängen hoch. Heimische Fans warfen Gegenstände auf das Spielfeld, Club-Trainer Wolfgang Wolf wurde am Kopf getroffen und von Betreuern benommen in die Kabine geführt. Schiedsrichter Mike Pickel setzte die Partie nach zehnminütiger Unterbrechung fort - der Club musste sie allerdings ohne seinen Chefcoach zu Ende bringen, weil Wolf über Sehstörungen und Schmerzen klagte. Der 1. FC Nürnberg legte Protest gegen die Spielwertung ein, das DFB-Sportgericht entschied auf Wiederholung unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

"Wir hatten vorher extra bei uns im leeren Stadion trainiert" 

Wolfgang Wolf (Club-Trainer): "Wir mussten uns ja zuvor im Wintertrainingslager in Belek ausgerechnet mit Alemannia Aachen ein Hotel teilen, schon da herrschte eine gespenstische Atmosphäre. Mein Kollege Jörg Berger ist komplett durchgedreht und hat die Stimmung angeheizt, später hat er sich dafür bei mir entschuldigt. Vor dem Anpfiff hatte ich meiner Mannschaft gesagt: Ihr müsst heute einmal für mich gewinnen. Wir hatten vorher extra bei uns im leeren Stadion trainiert, weil wir wussten, dass dieses Spiel über den Kopf entschieden wird. Mir war auch klar, dass Aachen zuhause von den Fans getragen wird und da jetzt vielleicht einen Nachteil hat.

Für mich als Trainer war es eine besondere Herausforderung: Ich musste meine Elf darauf einstellen, dass von außen keinerlei Impulse durch die Fans kommen, weder positiv noch negativ. Da brauchst du eine hohe Eigenmotivaton. Und ich musste sehr kontrolliert sein, weil man ja jedes Wort verstanden hat. Aber ich bin ja eh keiner, der Beleidigendes reinruft. Ein Vorteil war: Kein Spieler konnte behaupten, er hätte meine Anweisungen nicht gehört. Nach dem frühen 1:0 waren wir uns zu sicher, Aachen hat alles nach vorne geworfen, das Spiel gedreht und verdient gewonnen. Sie haben so zwar noch die Herbstmeisterschaft geholt, aber das hat ihnen am Ende auch nichts gebracht.

Ich hatte übrigens noch ein Geisterspiel: Eines meiner ersten Spiele als Trainer in Rostock war 2011 gegen Dynamo Dresden, das fand (wegen Ausschreitungen von Hansa-Fans im Spiel gegen St. Pauli, Anm. d. Red.) ebenfalls unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Da standen aber draußen auf beiden Seiten Tausende von Fans, die Raketen und Feuerwerkskörper aufs Spielfeld geschossen haben. Das war viel schlimmer als in Aachen."

"Fußball ohne Zuschauer ist schwierig" 

Marek Mintal (Club-Spieler): "Auf dem Tivoli war immer eine super Stimmung, ich habe da gern gespielt – und dann kommst du ins Stadion, und bis auf ein paar Sanitäter ist alles leer. Das war schon eine komische Atmosphäre. Man merkt auch, wie groß so ein Stadion ist. Wir wussten, dass Aachen eine starke Mannschaft hat, für die ging es noch um die Herbstmeisterschaft. Wir haben gut angefangen, zweimal geführt und dann trotzdem verloren. Schade, aber für mich persönlich war es eine gute Erfahrung. Man hat auf dem Platz jedes Wort gehört, es war mehr wie ein Testspiel, nur eben um Punkte. Fußball ohne Zuschauer ist schwierig, wir spielen ja für die Fans."

 

"... mit dem verrückten Meijer vorne drin oder Willi Landgraf" 

Raphael Schäfer (Club-Torhüter): "Ich kann mich an das Spiel ehrlich gesagt nur ganz grob erinnern. Es war eine komische Situation für alle und hat sich eher wie so ein Vorbereitungsspiel in einem Trainingslager angefühlt. Und es war wirklich schwer, die nötige Emotionalität aufzubauen. Man konnte sich auch nicht wirklich darauf vorbereiten, das war ja für alle komplettes Neuland. Ich glaube, für spielerisch überlegene Mannschaften ist es einfacher, weil die dann einfach ihr Ding durchziehen und nicht so über die Emotion kommen. Dass man auf dem Platz jedes Wort gehört hat, war für mich als Torwart eigentlich kein Problem, ich habe ja auch im Training schon immer lautstark Kommandos gegeben. Aber es war natürlich schwierig, jemanden mal so richtig die Meinung zu geigen. Die Atmosphäre war schon sehr giftig, aber das war auch im ersten Spiel so, weil Aachen eine Mannschaft hatte, die sehr über die Emotion gekommen ist – mit dem verrückten Meijer vorne drin oder Willi Landgraf, der wie ein Duracell-Häschen die Linie rauf und runter gerannt ist und die Zuschauer aufgepeitscht hat."

Gespenstisch! Gastgeber Aachen hatte zumindest für die passende Optik gesorgt.

Gespenstisch! Gastgeber Aachen hatte zumindest für die passende Optik gesorgt.

Lars Müller (Club-Spieler): "Ich kann mich noch an Fotos erinnern, dass jemand in einem Bettlaken auf der Tribüne herumgerannt ist. Aber klar, das hatte damals schon was von einem Testspiel in der Türkei, wo keiner zuschaut. Ohne Fans fehlt einfach was. Ich habe ja selber vorher für Aachen gespielt und weiß, wie wichtig die Szene dort ist. Die kann dich auch mal pushen, wenn es nicht so läuft. Es war auch extrem gewöhnungsbedürftig, dass man auf dem Platz jedes Wort verstanden hat. Sicher gut für die Kommunikation, aber in manchen Situationen will man vielleicht auch gar nicht alles hören. Etwa wenn der Trainer Anweisungen reinruft und man das selbst etwas anders sieht – da hatte man dann keine Ausrede. Als Premiere war dieses Geisterspiel schon etwas Besonderes. Ich hätte es aber nicht noch einmal gebraucht."

"Es hat auch alles so komisch gehallt im Stadion" 

Günter "Chicco" Vogt (Zeugwart): "Das Geisterspiel? War super! Wir sind unten auf der Bank gesessen und haben gelacht wie die Verrückten, weil wir die ganze Zeit den Günther Koch oben auf der Tribüne gehört haben. Jedes Wort hat man da verstanden. Aber die Atmosphäre war natürlich unmöglich, wie wenn du zu einer Beerdigung auf den Friedhof gehst. Es hat auch alles so komisch gehallt im Stadion. Sonst konnte man auch mal was reinschreien, das hat ja kein Schiedsrichter verstanden. Diesmal musste man Obacht geben. Auf dem Weg zum Stadion war alles abgeriegelt, wir hatten sogar Security im Bus. Als wir ankamen, haben draußen Aachener Fans Randale gemacht und uns beschimpft. So ein Spiel muss man angehen wie ein Pokalspiel, man muss da richtig motiviert sein und kämpfen bis zum Umfallen. Das Geisterspiel haben wir zwar verloren, aber am Ende sind wir aufgestiegen. Hat also alles gepasst."

"Hoffentlich gibt's so was nie wieder" 

Günther Koch (Radioreporter): "Erst dachte ich: Wo sind die Fans? Dann wurde mir wieder bewusst: Quatsch. Da darf ja keiner sein! Genau deshalb war ich ja an den Chef der Hörspielabteilung des BR, Herrn Kapfer, mit dem Vorschlag herangetreten, am Tivoli mit Hilfe der Technik des WDR über das erste Geisterspiel im deutschen Profifußball ein Echtzeithörspiel zu versuchen: eine Mischung aus Spielreportage, Beschreibung der lauten Stille und bedrückenden Leere im Stadion sowie Live-Interviews und einem historischen Streifzug durch die Geschichte beider Vereine. Fünf Torschreie von mir, aber kahle Ränge, leere Mülltonnen, eine Wurstverkäuferin, laute Spieler und Trainer sowie circa 30 Kollegen, die mir zuhören mussten, ob sie wollten oder nicht.

Rundfunklegende und Club-Aufsichtsrat Günther Koch erinnert sich auch noch gut an das, was eigentlich nie wieder kommen sollte.

Rundfunklegende und Club-Aufsichtsrat Günther Koch erinnert sich auch noch gut an das, was eigentlich nie wieder kommen sollte. © dpa

Es war kalt. Ich wanderte von Block zu Block, von Tor zu Tor und saugte alles auf, was ich sah, hörte und fühlte. Leider wollte der Geist nicht mit mir sprechen. Mein Gefühl täuschte mich nicht: es war eine Frau in ein gelb-weißes Alemannia-Laken gehüllt. Jammerschade. Bernhard Jugel vom BR aus München und der Berliner Feuilletonist Helmut Böttiger produzierten dann aus meinem Rohmaterial im Sommer 2004 im Schneideraum im Funkhaus München ohne irgendetwas zu verändern das Hörspiel 'Geisterspiel', an dessen Ende ich sagte: 'Hoffentlich gibt’s so was nie wieder!'"

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