7. Juni 1965: "Rettung per Draht"

7.6.2015, 07:00 Uhr
7. Juni 1965:

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„Ich kann nicht mehr, wem kann ich es sagen?“ heißt das fürsorgliche Motto der Stadtmission, deren Handzettel in Kirchen und Telephonzellen aufliegen. Daneben ist die Rufnummer 3 35 00 vermerkt. 80 Männer und Frauen – Juristen, Pädagogen, Ärzte, Beamte, Kaufleute und Hausfrauen – haben den ehrenamtlichen Dienst am Nächsten übernommen; einer von ihnen meldet sich, wenn es läutet und jemand Zuflucht sucht.

„Sie wollen nicht, daß von ihnen gesprochen wird“, sagt Missionspfarrer Dr. Karl Leipziger, der neben Pfarrer Heino Liebl zu nächtlicher Stunde oft aus dem Schlaf gerissen wird, um erste Lebenshilfe zu leisten. „Wir alle“, so erklärte er, „sind freiwillig und ständig bereit, einige Meilen mit den Menschen zu gehen, die uns in ihrer persönlichen Bedrängnis anrufen!“ Das kostet Kraft, und deshalb kommen die „Helfer per Draht“ auch jeden Monat einmal zusammen, um sich gegenseitig aufzurichten und Vorträge zu hören. Bei den Diskussionen werden Notfälle konstruiert und die besten Ratschläge dazu erörtert.

Von den Bagatell-Anrufen abgesehen, die auch vorkommen, geht es vornehmlich um ernste und schwierige Probleme. Bringt man sie in eine Art Reihenfolge, so stünden die Eheschwierigkeiten an erster Stelle, gefolgt von der Vereinsamung älterer Menschen, nicht jenen, die in Altersheimen, sondern in (ausgeschlossener) Gemeinschaft mit ihren Kindern leben. Sie sind, wie sie schmerzlich beklagen, nicht mehr gefragt.

Selbst Rentner aus der Sowjetzone, die nach langer Trennung und nach langem Warten zu ihren Kindern in den Westen für immer übersiedeln durften, fehlen nicht unter den Ratsuchenden am Telephon. Der anfänglichen Freude über ihre Anwesenheit waren Übelleidigkeit, Verdruß und Vorwurf gefolgt. Ist die Welle von Hilfsbereitschaft für uns schon wieder vorbei“, so fragen die Menschen von „drüben“.

Es gibt noch andere Fälle, in denen die „Engel am Telephon“ echte Einzelseelsorge beweisen: da sind es mal Betrunkene, die jammern – vielleicht quält sie nur eine unbewältigte Situation?, dann ist es eine Oberschülerin, die sich nicht heimzugehen traut, weil sie in der Schularbeit wieder einen Sechser geschrieben hat. Drohungen, sogleich einen Selbstmord zu begehen, sind ebenfalls nicht selten, und es bedarf großer Anstrengungen des Telephonisten in der Inneren Mission, den meist anonymen Anrufer nach oft mehr als einstündigem Hin und Her zu beschwichtigen. „Herr hilf, laß wohlgelingen!“ ruft so manches Mal auch Pfarrer Dr. Leipziger aus, wenn sein Gesprächspartner einfach den Hörer eingehängt hat, weil ihm die Art der Anleitung, aus seiner Misere herauszukommen, offensichtlich nicht ins Konzept paßte.

Es kommt aber auch vor, daß die ungenannten Missionare tags oder nachts hinauseilen, um sich mit den Verzweifelten zu treffen, die schließlich doch ihren Namen und Standort genannt hatten. Diese „nachgehende Fürsorge“ zeigt großen Erfolg.

Viel Leid wird „durch den Draht gezwängt“, und Verschwiegenheit ist bei den Mitarbeitern der Telephon-Seelsorge oberstes Gebot. „Wir müssen stets auf der Hut sein, den rechten Weg einzuhalten, wenn wir zuhören und Rat geben“, sagen sie. „Außerdem kennen wir nur die Stimme des Fremden, nicht aber sein Gesicht!“ Immer wieder aber gehen sie auf jeden Neuen – auch auf die „Dauerkunden“ – unbefangen zu.

Die Zahl der Anrufe läßt sich nicht festlegen. Mal sind es innerhalb 24 Stunden fünf, mal sind es 15 und mehr. Die meisten kommen – auch von auswärts – bei Nacht. Sie haben alle einen unerquicklichen Inhalt – genauso, wie bei den Gesprächen mit der Telephon-Seelsorge in Hamburg, Stuttgart, Westberlin und Kassel. In Nürnberg hatte Pfarrer Georg Schönweiß schon vor rund sechs Jahren den Anfang gemacht, gute Hinweise am Hörer zu vermitteln. Schwester Else Wolf vom Amt für Gemeindedienst war es schließlich gewesen, die danach drängt, die – bisher in Bayern – einzige Einrichtung in der Stadtmission zu schaffen.

Inzwischen sind mehr als vier Jahre vergangen. Das seelsorgerliche Wort gilt und wird gefragt, ebenso wie neuerdings die Telephonbotschaft, die unter der Rufnummer 20 49 49 eine Minute lang zu vernehmen ist. Der Anschluß ist meistens besetzt und Pfarrer wie Laien staunen darüber.

Den Rat im stillen, liebevoll gesagt, braucht jeder.

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