14. Januar 1966: Kleinste Leser können nicht lesen

14.1.2016, 07:00 Uhr
14. Januar 1966: Kleinste Leser können nicht lesen

© Gerardi

Um bei der Volksbücherei als Leser eingetragen zu sein, braucht man noch lange nicht lesen zu können. Die jüngsten Entleiher sind drei und vier Jahre alt. Sie dürfen unter 800 Bilderbuchtiteln wählen und finden ganz herrliche gemalte Geschichten, die in ihre Welt passen.

Die „Sieben Geißlein“, illustriert von Felix Hoffmann, „Schellenursli“ von Carigiet, „Die drei Räuber“ von Ungerer, „Henriette Bimmelbahn“ von Stich und der ewig junge „Struwwelpeter“ gefallen den Kleinsten am besten. Über das Bilderbuch führt dann der Weg zu kleinen Geschichten für Leseanfänger, etwa „Pippi Langstrumpf“ und „Die Kinder von Bullerbü“ von Lindgren, zum „Kater Mikesch“ von Lada und zu der „Kleinen Hexe“ von Preussler, um nur einige besonders beliebte Bücher zu nennen. Keine Zeit für Heftchen

14. Januar 1966: Kleinste Leser können nicht lesen

© Ulrich

Die neun- bis zwölfjährigen bevorzugen wie immer Karl May und Schulgeschichten, zeigen aber auch schon Interesse für technische Bücher und Bastelanleitungen. Bis 15 wächst dann das Interesse an Technik und Zeitgeschichte, und bei den Leserinnen und Lesern ab 15 stellen die Bibliothekarinnen eine erstaunliche Vorliebe für moderne Literatur, einschließlich Lyrik und Dramatik, fest. Die Ausleihe an die Jugend hat in den letzten beiden Jahren nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ zugenommen. Solange die Kinder noch fünf Pfennig zahlen mußten, erfüllten sich viele ihren Herzenswunsch und holten eine Karl May oder eine Detektivgeschichte. Jetzt nehmen die kleinen Leseratten gerne wertvolle Bücher dazu. Für Heftchenlesen bleibt dann keine Zeit mehr. Viele Lehrer fördern die Lesebegeisterung. Unter den 23 Haltestellen der drei Fahrbüchereien sind 18 Schulen.

Die Jugendbücherei mit insgesamt 20.000 Bänden ist aber nur eine von vier. großen Abteilungen der Volksbücherei am Gewerbemuseumsplatz und ihrer sechs festen und drei fahrbaren Zweigstellen. Der Gesamtbestand beträgt zur Zeit etwa 140.000 Bücher.

In der Abteilung „Schöne Literatur“ findet der Leser sowohl Dichtung von Weltgeltung als auch Unterhaltungsbücher. Bei modernen literarischen Versuchen ist man bemüht, das Wertvolle auszuwählen und auf Unbrauchbares zu verzichten. In den letzten Monaten wurde verschiedene Werke ostzonaler Autoren neu in die Bücherei eingereiht.

Als „Bestseller“ erwiesen sich im vergangenen Jahr die zeitkritische Auseinandersetzung „Herzog“ von Bellow, „Das Löffelchen“ von Albrecht Goes und Werke moderner Autoren wie Uwe Johnson, Wolfgang Hildesheimer, Siegfried Lenz, Peter Weiss und anderer. Viel gefragt waren auch Übersetzungen bekannter ausländischer Schriftsteller.

Alle Wissensgebiete sind in der Sachbuchabteilung vertreten. Derartige Literatur bevorzugen vor allem Leser, die sich beruflich oder auch allgemein weiterbilden wollen. Um den Interessenten möglichst umfassend dienen zu können, hat man zwei Kataloge angelegt: einen systematischen Sachkatalog und einen Schlagwortkatalog. In der Sachbuchabteilung können darüber hinaus 175 Zeitschriften eingesehen und entliehen werden.

20.000 Bände – Noten und Biographien – bilden den Bestand der Musikbücherei. Diese Abteilung hat einen festen Stamm von Entleihern, die sich durch Noten- und Partiturenstudium auf Opern und Konzerte vorbereiten. Neben klassischer Musik sind auch moderne Werke sehr gefragt. Frau Adelheid Beck, zur Zeit vertretungsweise Leiterin der Volksbücherei, beobachtet mit ihren Mitarbeitern sorgfältig die Wünsche des Publikums. Dabei hat man festgestellt, daß die Taschenbücher als „Unterwegslesestoff“ viel gefragt sind, daß sich Urlaubszeiten in der Nachfrage nach beschreibender Reiseliteratur und Kunstführern bemerkbar machen – „zur Zeit wird Ägypten verlangt“ – und daß Schüler während der Schulzeit weniger unterhaltende Bücher entleihen als während der Ferien.

Im letzten Jahr wuchs die Volksbücherei um 20.200 Bände. Im gleichen Zeitraum mußten 8.000 bis 10.000 Bücher ausgeschieden werden. Im Durchschnitt rechnet man pro Buch mit 80 bis 100 Ausleihungen. Bei Kinder- und Jugendbüchern sind es entsprechend weniger. Seit September bringt eine der rollenden Büchereien einmal wöchentlich geistige Nahrung in zwei Nürnberger Altenheime. Das Experiment, das in anderen Städten schon versucht und wieder eingestellt worden war, ist gelungen. In drei Monaten wurden 1.248 Bücher – meist Heimatromane, Berg-, Bauern- und Familiengeschichten, aber auch Krimis – an die begeisterten betagten Leser ausgeliehen.

Wer sich den Lesestoff selbst abholt, braucht übrigens keine Bestellungen aufzugeben. Die Volksbücherei praktiziert das Freihandverfahren, nach dem jeder Leser an den Regalen entlanggehen und sich sein Buch entnehmen kann. Damit auch wirklich alle bedient werden können, ist die Ausleihe samstags von 9 bis 12 Uhr geöffnet.

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