15. Oktober 1966: Der Mensch in der Kartei

15.10.2016, 07:00 Uhr
15. Oktober 1966: Der Mensch in der Kartei

© Kammler

Von der Wiege bis zur Bahre ist der Mensch erfaßt, registriert, verwaltet, betreut oder auch beobachtet, wenn er Anlaß dazu geben sollte. Wir sind einmal auf dem "amtlichen Weg" spazierengegangen, haben uns aber dabei an die gerade Spur des Normalbürgers geheftet und nur ab und zu einen Blick auf die verschlungenen Pfade geworfen, die denen vorgeschrieben sind, die aus irgend einem Grund besondere Kennzeichen – etwa uneheliche Geburt – tragen. Unser Bericht stützt sich auf die Nürnberger Praxis.

"Geborenwerden und Sterben sind keine meldepflichtigen Vorgänge für den Betreffenden." Diese Erkenntnis dürfte wohl jedem einleuchten, aber sie ist gesetzlich fixiert, und damit beginnt der amtliche Ernst des Daseins.

Wenn in Nürnberg ein Kind zur Welt kommt, wird aus der grauen Theorie standesamtliche Praxis. Die Geburt muß "angezeigt" werden. Erfolgt die Entbindung in den städtischen Krankenanstalten, so bleibt dem von banger Sorge erlösten Vater ein Gang erspart. Das Standesamt wird auf dem Dienstweg über das freudige Ereignis unterrichtet. In allen anderen Fällen ist das Familienoberhaupt verpflichtet, mit einer Bestätigung der Hebamme oder des Arztes der Behörde den Familienzuwachs anzuzeigen.

Beim Standesamt ist der junge Erdenbürger ebenso herzlich willkommen wie in der Familie. Und während der Vater Verwandte und Bekannte verständigt, teilt die Behörde die noch junge menschliche Existenz dem Einwohnermeldeamt und dem Amt für Stadtforschung und Statistik mit, das auch die Wahl- und Lohnsteuerkartei führt. Eine weitere Meldung geht an das Gesundheitsamt, damit der Säugling fristgerecht zur Impfung gegen Pocken bestellt werden kann. Haben die Eltern des Kindes ihren Wohnsitz außerhalb Nürnbergs, so wird das zuständige Einwohnermeldeamt verständigt.

15. Oktober 1966: Der Mensch in der Kartei

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Hier gibt es schon eine erste, beachtenswerte Ausnahme: Wurde das Kind hier von einer außerhalb Nürnbergs lebenden Mutter unehelich geboren, so wahrt die Gemeinschaft Diskretion: die Meldebehörde am Wohnsitz der Mutter erfährt nichts, Jugendamt und Vormundschaftsgericht werden aber verständigt.

Dann wächst der Nachwuchs heran, wird geimpft und "schulreif". Die Anmeldung für die erste Klasse ist Sache der Eltern. Das Statistische Amt kann allerdings auf Wunsch sämtliche angehende Abc-Schützen "herausholen", denn inzwischen ist dort Klein-Uwe oder Klein-Inge längst Objekt einer Lochkarte, die mit verschlüsselten Kennzeichen jederzeit auf Abruf bereit liegt. Außerdem ist ihr Dasein auf ein Magnetband aufgenommen, das Antwort auf bestimmte Wünsche von Fragestellern gibt. Etwa auf die Fragen: wer hat sich zur Wehrerfassung einzufinden, oder wer ist 21 Jahre alt und damit wahlberechtigt? Die Maschinen wissen Bescheid.

Naht dann der Tag, an dem junge Menschen eine Familie gründen wollen, prüft der Standesbeamte wieder die Papiere. Er benötigt Geburtsurkunden und Bescheinigungen der Behörden, daß Braut und Bräutigam an ihrem Wohnsitz ordnungsgemäß gemeldet sind. Seit dem 1. Januar 1958 gibt es ein sogenanntes "Familienbuch", das bei der Hochzeit angelegt wird und die zuvor üblichen umständlichen Verfahren wesentlich vereinfacht. Wenn auf diesem Blatt alle erforderlichen Daten über Mann und Frau beurkundet sind, dient es als amtlicher Nachweis für die Personenstandsveränderungen innerhalb der ganzen Familie. Das "Familienbuch" wandert auch bei einem Wohnsitzwechsel mit.

Auf dem Dienstweg werden selbstverständlich sofort das zuständige Einwohnermeldeamt und die Standesämter unterrichtet, in deren Bereich Braut und Bräutigam geboren sind. In der Fachsprache heißt dieser Vorgang "Hinweisverfahren".

Das "Amtliche Führungszeugnis"

Über den seßhaften Bürger wacht das Einwohnermelde- und Paßamt. Diese Dienststelle wird, wie bereits geschildert, über die Geburt eines Kindes unterrichtet. Die Mitteilung ist gleichzeitig eine Kontrolle, ob die Familie mit festem Wohnsitz in Nürnberg gemeldet ist oder nicht. Das Einwohnermelde- und Paßamt registriert als Ordnungsbehörde alle Zu- und Wegzüge und benachrichtigt seinerseits das Statistische und Wahlamt, das Steueramt, das Finanzamt und das zuständige Kirchensteueramt über alle Veränderungen in seinem Bereich. Es teilt auch dem offiziellen Adreßbuchverlag mit, wer in welchem Haus wohnt.

Das Einwohnermeldeamt weiß aber noch viel mehr: auf dem "Weg des Nachrichtenaustausches" innerhalb der Behörden erfährt es, ob ein Bürger eine saubere Weste hat oder nicht. Persönlich interessiert dies die Beamten nicht, aber irgendwohin muß sich der Mensch schließlich wenden, wenn von ihm ein "Amtliches Führungszeugnis" verlangt wird.

Grundsätzlich läßt die Staatsanwaltschaft Vorstrafen eines Bürgers dort eintragen, wo er geboren ist. Über den Weg des "Amtlichen Nachrichtenaustauschs" wird sein Versagen dorthin gemeldet, wo der Betreffende sich augenblicklich befindet. Die Privatsphäre bleibt aber trotzdem unangetastet: Ein "Amtliches Führungszeugnis" kann nur jemand für sich beantragen. Keine außenstehende Privatperson erhält Auskunft über das Strafregister. Wenn Herr X. nun sein mit einem negativen Eintrag versehenes Zeugnis abholt, so händigt ihm die Behörde das Dokument nur für den Privatgebrauch aus. Wenn er es einem Dritten auf Wunsch vorlegt – etwa seinem Arbeitgeber – so ist das seine Sache. Er muß dann eben Farbe bekennen.

Aber das Einwohnermeldeamt registriert noch mehr: verheiratete Frauen beispielsweise unter ihren Mädchennamen. Es weiß auch, ob jemand entmündigt ist, in eine Heil- und Pflegeanstalt eingewiesen wurde, im Arbeitshaus sitzt, Berufsverbot oder Führerscheinentzug hat oder mit "sonstigen Maßnahmen zur Sicherung und Besserung" belastet ist. Wer von Finanz-, Steuer- oder Zollbehörden bestraft wurde, hat ebenfalls einen Eintrag in der Meldekartei.

Damit ist das Stichwort "Steuer" gefallen: kein Arbeitgeber wird einen 14jährigen Stift oder einen gestandenen Fachmann einstellen, wenn ihm sein Arbeitnehmer die Lohnsteuerkarte vorenthält. Die Lohnsteuerkarte gibt es wiederum beim Statistischen Amt, das dieses Dokument auf Antrag ausstellt.

Zahlen werden verglichen

Das Fazit aus dem bisher Gesagten: der Mensch und Bürger ist erfaßt. Und trotzdem stimmen die Zahlen nicht überein, wenn beispielsweise Einwohnermeldeamt und Statistisches Amt ihre Nürnberger Einwohnerzahlen miteinander vergleichen. Der Grund ist leicht erklärlich: Zu- und Wegzüge, dazu Geburten von auswärtigen Kindern, lassen immer eine gewisse Fluktuation zu. Vor allem dann, wenn Leute vergessen, sich abzumelden.

Der Spazierweg durch das menschliche Dasein erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Nicht berücksichtigt sind all die vielen Dokumente, die eine Religionszugehörigkeit nachweisen, die das Berufsleben erfordert und die persönliche Qualifikation verbriefen.

Der letzte, laut Gesetz für den Betroffenen nicht meldepflichtige Vorgang, ist schließlich der Tod. Das Standesamt nimmt die vom Leichenschauer bestätigte Meldung über das Ableben entgegen und verständigt wiederum alle daran interessierten Behörden. Die wichtigste Nachricht geht an die "Geburtskartei", denn dort ist wiederum hinterlassen, ob der Verblichene ein Testament hinterlassen hat, das notariell bestätigt ist. Diese "Testaments-Verwahrungsanzeige" landet schließlich bei dem für die Erben zuständigen Amtsgericht. Und damit hat sich der Kreis des Daseins geschlossen.

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