16. April 1964: Ein Glas Sekt über den Wolken

16.4.2014, 07:00 Uhr
16. April 1964: Ein Glas Sekt über den Wolken

© Friedl Ulrich

Auf ein Glas Sekt gingen gestern 200 Nürnberger in die Luft.

Sie schlürften das köstliche Getränk in 4250 Meter Höhe auf einem Flug nach Würzburg, der sie mit den Vorzügen der jüngsten Lufthansa-Düsenmaschine, des „Europa-Jet Boeing 727“, vertraut machen sollte. Das moderne Mittelstrecken-Flugzeug hatte einen Blitzbesuch in Nürnberg gemacht, um sich von zahlreichen Zaungästen auf dem Flughafen bestaunen und bei zwei Rundflügen von den Passagieren bewundern zu lassen.

Der große „Vogel“, der am Morgen in München auf den Namen Augsburg getauft worden war, wird künftig über den Wolken von Deutschland und Europa schweben.

Ehe noch Kapitän Heinrich Schlemmer aus Roth, der 50jährige Chef der 727er-Flotte eine Ehrenrunde über das Rollfeld geflogen hatte, machte Lufthansa-Bezirksleiter Artur Deutsch die illustre Gästeschar im Flughafen-Wartesaal auf das nahende Ereignis aufmerksam. Die Boeing 727 soll eine Lücke zwischen den großen interkontinentalen Maschinen und den „müden“ Propeller-Flugzeugen der Gesellschaft schließen. Sie wird auf Strecken zwischen 250 bis 2900 Kilometer eingesetzt und kann dabei eine Stundengeschwindigkeit bis zu 900 km/h erreichen. Von den Langstrecken-Düsenmaschinen unterscheidet sie sich durch ihre Triebwerke am Heck.

16. April 1964: Ein Glas Sekt über den Wolken

© Friedl Ulrich

Das neue Flugzeug soll auch dann starten und landen können, wenn andere Maschinen Ausweichflughäfen ansteuern müssen. Trotz seiner 68,5 Tonnen ist die Landegeschwindigkeit nicht größer als bei der „Metropolitan“, die mit ihren 22 Tonnen Gewicht täglich auf dem Nürnberger Flughafen aufsetzt. Der Boeing 727 genügt eine Landefläche von 450 bis 500 Meter; sie kommt mit 150 Stundenkilometern an. „Wir hoffen, daß dieses Flugzeug einmal die gleiche Rolle spielen wird wie einstmals die Ju 52 der alten Lufthansa“, sagte Artur Deutsch.

Auf dem kurzen Ausflug nach Würzburg bewies die „Augsburg“, daß sie das Zeug dazu in sich hat. Als sie anzog, wurden die Fluggäste von mehreren tausend PS in die Sessel gepreßt. Ehe sie sich´s versahen, schaute der große Nürnberger Gaskessel nur noch wie das Requisit aus einer Spielzeugschachtel aus. Bald schwebte die Gesellschaft des Nürnberger Jungfernfluges über Wolken, die einem Schaumbad aus Seifenpulver glichen. Der Blick auf Würzburg, das 4250 Meter tiefer lag und mit 850 km/h  überflogen wurde, lohnte sich nicht.

Dagegen war Nürnberg aus tausend Meter Höhe um so besser zu betrachten. Bei einer Bremsprobe erwies sich endlich, daß dieses Flugzeug wie ein Brett in der Luft liegt. Es schien bei ausgefahrenen Landeklappen und 200 km/h förmlich zu stehen. „Es ist sagenhaft, was man mit dem Vogel machen kann“, sagte bei dieser Gelegenheit ein „alter Hase“.

Delikate Mahlzeiten rollen an

Während des kurzweiligen Fluges brachten es die Stewardessen fertig, Sekt und andere neckische Kleinigkeiten zu servieren. Dieser schnelle Service ist möglich, weil die Küche in der Mitte des Flugzeuges liegt, das 12 Sitze in der Ersten Klasse und 84 Plätze in der Touristenklasse bietet. Die Mahlzeiten sollen künftig mit Servierwagen ausgeteilt werden, die an der Unterseite der Sitze laufen und daher nicht kippen oder davonrollen können.

Die Lufthansa richtet sich ganz auf die neue Maschine ein. 25 Kapitäne, 20 Copiloten, 22 Flugingenieure und 130 Techniker des Bodenpersonals werden gegenwärtig in Tueson/Arizona (USA) umgeschult, weil dort keine Start- und Landegebühren  bezahlt werden müssen; in Deutschland kostet ein Übungsflug 150 DM. Der Europa-Jet wird bald in Mailand, Madrid, Barcelona, Athen, Istanbul und Beirut aufkreuzen.

Nürnberg wird ihn vermutlich nicht so schnell mehr zu sehen bekommen. Aber die schnelle Düsenmaschine macht andere Flugzeuge frei, so daß die Lufthansa ab 1. Juli eine Verbindung nach Düsseldorf einrichten kann. Das ist immerhin auch ein Gewinn.

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