17. April 1964: "Bücherturm" für 500.000 Bände

17.4.2014, 07:00 Uhr
17. April 1964:

© Friedl Ulrich

Stein, Glas und Holz – das sind die Bausteine eines neuen Blickfangs am Kornmarkt: Das Germanische Nationalmuseum hat ein modernes Bibliotheks- und Verwaltungsgebäude errichtet, das sich sehen lassen kann. Der Platz aber ist um ein Bauwerk reicher geworden, das ihn wiederum aus der übrigen Altstadt heraushebt.

Sechs Millionen Mark hat das formschöne Haus gekostet, bei dem nicht mit dem Pfennig geknausert worden ist.

17. April 1964:

© Friedl Ulrich

„Es ist endlich soweit!“, sagte gestern erleichtert Dr. Erich Steingräber, der Generaldirektor des Nationalmuseums, als er den Neubau präsentierte. Seine ersten Gäste fanden bestätigt, was er stolz feststellte: „Dieses Haus ist nicht wie eine Wohnung oder ein Finanzamt hingestellt worden, sondern hat beim Planen und Bauen viel zu denken gegeben!“ Man sieht es dem Gebäude und seiner Ausstattung an, daß auf Qualität größter Wert gelegt worden ist. Vor allem die Mitarbeiter des Museums wissen das zu schätzen, denn sie haben bisher in drückender Enge wirken müssen.

Das alte Verwaltungsgebäude, das 1920 errichtet worden war, ist im Kriege zerstört worden; 50 v. H. der Museumsbauten sind damals den Bomben zum Opfer gefallen. Lange Jahre mußte man sich daher mit Provisorien bescheiden. Der Theodor-Heuss-Bau, der 1958 eingeweiht wurde und nach dem verstorbenen ersten Bundespräsidenten benannt ist, wurde als erstes Gebäude nach dem Kriege geschaffen. Er dient Ausstellungszwecken. Erst als er stand, dachte die Direktion auch an ein Verwaltungs- und Bibliotheksgebäude. Ihre Pläne nahmen greifbare Formen an, als die alte Feuerwache auf dem Eckgrundstück Kornmarkt/Kartäusergasse niedergerissen war und die Stadt das Gelände abgab. 1960 konnte mit den Bauarbeiten begonnen werden.

17. April 1964:

© Friedl Ulrich

Der Architektengemeinschaft Professor Sep Ruf und Harald Roth waren zwei große Aufgaben gestellt: einmal mußten sie an dieser Stelle – die Ecke liegt am Ausgangspunkt des künftigen Boulevards am Weißen Turm – einen städtebaulich wirkungsvollen Akzent setzen, zum anderen waren die Raumwünsche des Museums zu erfüllen. Es ist ihnen gelungen, beide Probleme zu meistern, wie von allen Gästen bei einem ersten Rundgang neidlos anerkannt wurde.

Der Neubau, der auf einer Fläche von 1450 Quadratmetern steht und 27 000 Kubikmeter Raum umschließt, wird noch viel gelobt werden, wenn seine offizielle Weihe am 1. Juni „steigt“. Seine Front nach dem Kornmarkt ist zwar schlicht und einfach, hebt sich aber doch wirkungsvoll von den Geschäftshäusern auf der anderen Seite ab, wie dies gefordert worden war. Sie läßt auch die alte Eingangshalle zurücktreten, die von dem lichtvollen Bauwerk profitiert und sich weniger düster darbietet.

17. April 1964:

© GNM

Ein besonderes Augenmerk schenkten die Architekten dem Baumaterial, das überall in diesem Hause besticht. Allein mit den Steinen erzielten sie Effekte und Wirkung. Die Fassade an der Kartäusergasse ist mit Muschelkalk-Balubank „geplättelt“, der Bücherturm im Kern des Hauses wird mit gesägtem Kernstein-Muschelkalk von seiner Umgebung abgesetzt, die Pfeiler sind aus Quarzit, auf dem Fußboden liegt Rembrandt-Quarzit aus Norwegen. 1400 Quadratmeter Glas waren für die großen Fenster nötig. Eine ganze Schiffsladung von brasilianischem Holz wurde für Wände gebraucht; Fichtenlatten verkleiden die Decken.

Den Mittelpunkt des Gebäudes, den alle Besucher ahnen, aber nie zu sehen bekommen, stellt das siebengeschossige Bücher-Magazin dar. Es ist für eine halbe Million Bände berechnet, so daß die Bibliothek in den nächsten 50 Jahren genügend Platz haben wird. Das Germanische Nationalmuseum besitzt gegenwärtig 270 000 Bücher, darunter viele einmalige Exemplare. Daher ist es nur allzu verständlich, daß in diesem Magazin manche kostbare Stücke sogar hinter Panzertüren verwahrt liegen.

Auf der Seite zum Kornmarkt befinden sich vor dem Bücherturm der weite luftige Lesesaal, das Kupferstichkabinett und die Münzsammlung. In den Leseräumen stehen 15 000 Bände in einer sogenannten Freihand-Bibliothek: man braucht also nur zugreifen. Alle übrigen Bücher können in wenigen Minuten herangeschafft werden – und das ist einmalig in Deutschland.

Der Saal ist obendrein  so geschmackvoll eingerichtet, daß sich das Nationalmuseum künftig auch den Besuch jener Wissenschaftler verspricht, die bisher einen Bogen um Nürnberg gemacht haben. Den Gesamteindruck faßte ein Mitarbeiter des „Germanischen“ in den Worten zusammen: „Wir springen mit unserer Bibliothek aus der Steinzeit in die Gegenwart!“

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