Richard Sucker litt in der Nazizeit in den Rummelsberger Anstalten

9.2.2012, 18:50 Uhr
Richard Sucker litt in der Nazizeit in den Rummelsberger Anstalten

© Eduard Weigert

Im Nationalsozialismus hatten Jugendliche einen so hohen Stellenwert wie noch nie zuvor. Doch manche wurden behandelt wie Dreck: geistig behinderte oder uneheliche Kinder, junge Menschen mit unbequemen Ideen und Nachwuchs von Familien, die politisch aktiv waren. Richard Sucker war einer von denen, die die Nazis als „unwert“ betrachteten. Seine Mutter sah ihren Sohn mit eineinhalb Jahren zum letzten Mal. Die ledige Frau wurde 1935 gezwungen, ihr Kind in ein Heim zu geben.

Je jünger Menschen sind, desto anpassungsfähiger sind sie. Für den kleinen Richard gehörte es im Heim der Rummelsberger Anstalten in Naila daher zur hinzunehmenden Routine, dass morgens die „Bettpinkler“ aus der Reihe vortreten mussten.

Wer seine Schlafstatt verschmutzt hatte, bekam mit dem Ochsenziemer „fünf Schläge auf den nackten Arsch“, erinnert sich Richard Sucker. Der Dokumentarfilm „Die Unwertigen“, gedreht 2009 von Renate Günther-Greene, zeigt in dieser Szene, wie Sucker mit traurigem Blick einen Ochsenziemer auf seine Handfläche schlägt. „Das tat richtig weh!“

Die evangelische Aktionsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (afa) hatte sich entschlossen, diesen schwer verdaulichen Film am vergangenen Samstag zu zeigen. Obwohl die Rummelsberger Anstalten von der Organisation her zur Diakonie gehören und die afa zur evangelischen Landeskirche, musste auch Hannelore Kiefer vom evangelischen „Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt“ einige Kritik an der Kirche einstecken.

Wie, fragten manche der Zuschauer, konnten christliche Diakone Kinder für Nichtigkeiten stundenlang in eine Dunkelkammer sperren? „Manchmal wurden wir dort vergessen“, erinnert sich Sucker im Film, „dann blieben wir auch über Nacht drin“.

Trotz der Gewöhnung an alle Härten: Das Kind Richard sehnte sich nach Geborgenheit und einem „würdigen Zuhause“. Das erste Mal hatte er dieses Gefühl verspürt, als „ich meine ersten Prügel bezogen habe“. Und am glücklichsten sei er gewesen, erinnert sich der heute 79-Jährige, als er im Krankenhaus landete. Damals mussten er und die anderen Heimkinder viele Stunden am Tag harte körperliche Arbeit leisten.

Als Sucker im Winter barfuß schuftete und dabei so krank wurde, dass er in eine Klinik kam, fühlte er sich wie im Himmel: „Es war warm und es gab gutes Essen. Bevor ich entlassen wurde, wurde ich neu eingekleidet. Das hatte noch nie jemand für mich getan.“

Richard Suckers Kinder wussten lange nicht, was für eine Vergangenheit ihr Vater hatte. Gut, er war aus der Kirche ausgetreten. Ja, er war sehr streng – für fünf Minuten Verspätung gab es eine Woche Hausarrest. Aber gesprochen hat er über sein Trauma nie. Erst als der Nürnberger 2008 seine Erlebnisse in der Autobiographie „Schrei zum Himmel. Kinderzwangsarbeit in Christlichen und Staatlichen Kinderheimen“ veröffentlichte, wuchs das Verständnis.

Mit 21 Jahren entließen ihn die Rummelsberger Anstalten in die Ruinen Nürnbergs. Auf der Suche nach seiner Mutter teilte ihm das Bayerische Rote Kreuz mit, sie sei verstorben – irrtümlich, wie sich herausstellte. Auch beim Diakon, der ihn besonders gequält hatte, konnte er seiner Seele keine Luft machen. „Hat sich der Scheißkerl aus dem Leben geschlichen“, schimpfte der Frührentner, als er von dessen Tod erfuhr.

Das Einzige, was er noch tun kann, um sich und anderen Betroffenen etwas Genugtuung zu verschaffen: Von den Kinderheimen Bezahlung einfordern für die Zwangsarbeit, die sie leisten mussten. Seit 2008 sitzt er als Zeitzeuge mit am Runden Tisch, den der Bundestag zur Aufarbeitung des Schicksals ehemaliger Heimkinder eingerichtet hat. 2010 sollten die Ergebnisse vorliegen. Richard Sucker wartet immer noch darauf.

Keine Kommentare