Wunschzettel (6): Wo Kindern der Unterricht Spaß macht

1.12.2010, 17:11 Uhr
Wunschzettel (6): Wo Kindern der Unterricht Spaß macht

© Roland Fengler

Heute steht das Briefeschreiben auf dem Stundenplan. Nach Mexiko wird die Post gehen, dort arbeitet eine Lehrerin, die die Viertklässler im letzten Schuljahr noch selbst unterrichtet hatte. Jetzt lehrt sie südamerikanischen Kindern die deutsche Sprache – und hofft auf viele Zuschriften aus ihrer Heimat. Die Nürnberger Schüler sollen sich vorstellen: in informativen und schönen Sätzen, sagt die diesjährige Klassenlehrerin Corinna Fäller. Für viele Neun- oder Zehnjährigen dürfte diese Aufgabe nichts Besonderes sein – ein paar Zeilen aus dem Urlaub zu schreiben oder an eine Brieffreundin irgendwo in einem fernen Land ist für die meisten Kinder nichts ungewöhnliches.

Bei den Schützlingen von Corinna Fäller ist es jedoch anders. Sie besuchen die Martin-Luther-Schule, eine Einrichtung des Jugendhilfeverbunds Martin-Luther-Haus (MLH) in Nürnberg. In der Einrichtung der Stadtmission werden Kinder, die als besonders aggressiv, unkonzentriert oder lernschwach gelten, in kleinen Klassen ganz gezielt gefördert. Für den Besuch einer sogenannten Regelschule sind sie nicht geeignet. Zumindest momentan nicht.

Nach kurzer Zeit sind die Leistungen wieder stabil

Das übergeordnete Ziel dieser besonderen Maßnahme ist immer die Rückkehr in eine „normale“ Schule: „In der Regel werden zwei Drittel wieder zurückgeschult“, berichtet Fäller, die seit rund zehn Jahren in dem Förderzentrum arbeitet. Etliche seien so clever oder sogar überdurchschnittlich intelligent, dass ihnen der Stoff keine Schwierigkeiten bereite. Das Problem sind jedoch oft die Elternhäuser: Familien, die sich nicht darum kümmerten, ob Tochter oder Sohn ihr Schulmaterial einpacken oder Hausaufgaben machen. Weil sie überfordert sind oder einfach desinteressiert.

Viele Eltern haben selbst mit einer Vielzahl an Problemen zu kämpfen, wie Einrichtungsleiter Michael Endres sagt. Manche sind besonders labil und psychisch krank. Manchmal sind zusätzlich Drogen und Alkohol im Spiel. Genauso gut aber kann das Elternhaus völlig intakt sein und das Kind dennoch durch extremes Verhalten auffallen.

In beiden Fällen ist die Unterbringung in einer professionellen Anlaufstelle und/oder der dazugehörigen Schule der letzte Anker. „Wir wollen die Kinder dort abholen, wo sie sind“, erläutert der Leiter der Martin-Luther-Schule, Joachim Pflaum. Die intensive Auseinandersetzung mit den Schülern trägt Früchte; ebenso wie das ausgefeilte Bewertungssystem. Die Schule wählt zum Beispiel das „Kind der Woche“ oder auch die „Klasse der Woche“. Die Auszeichnung steht diesmal in Fällers Klassenzimmer – ein Smiley-Pokal in der Kategorie „Benehmen in der Pause“. All diese Maßnahmen – gepaart mit den pädagogischen Erziehungsmaßnahmen – zahlen sich aus. Schon nach zwei, drei Jahren werden die Leistungen besser – und stabiler: „Durch die konsequente Erziehung, die sie in der Schule und im Heim erfahren, bleiben sie an einer Sache endlich dran – der Drang, alles zu verweigern, lässt nach“.

So weit sind Corinna Fällers Schüler noch lange nicht. Sie kann ihren Unterricht auf keinen Fall von einer Pause zur nächsten am Stück halten. Immer wieder baut sie „Rennspiele“ und Laufdiktate ein, damit die Mädchen und Jungen ihren oftmals übermäßigen Bewegungsdrang abbauen können.

Auch an diesem Dienstagvormittag wird das Briefeschreiben von einer kurzen Pause schnell unterbrochen, den Rest bekommen die Kinder als Hausaufgabe auf – und auch dabei werden sie nicht allein gelassen. Sie erledigen die Arbeiten entweder in ihren Wohngruppen im benachbarten Martin-Luther-Haus oder in der heilpädagogischen Tagesstätte (HPT).

Dort macht zum Beispiel Marina, die in Wirklichkeit anders heißt, jeden Nachmittag ihre „Hausi“. Seit diesem Schuljahr besucht das Mädchen die zwei Einrichtungen des Jugendhilfeverbundes. „Hier kann ich jeden Tag etwas vernünftiges lernen“, sagt die Neunjährige, während sie ihren Apfel akkurat in kleine Teile zerlegt. Außerdem habe sie viele neue Freunde gefunden. In dem Förderzentrum, das sie in Fürth zuvor besucht hatte, sei das anders gewesen: Da habe es mit den anderen Kindern häufig Streit gegeben. Ihre Familie ist das, was man gemeinhin als zerrüttet bezeichnet: „Meine Eltern mögen sich nicht mehr“, sagt sie. Und dass ihre Mutter nun einen anderen Mann sucht.

Die Lehrer in der Martin-Luther-Schule (MLS) berücksichtigen Schwierigkeiten im Elternhaus – und helfen beiläufig, fast wie im Hintergrund, wenn sie Marina bei ihrer Ankunft in der Schule sofort ein Pausenbrot in die Hand drücken. Bei Marina, die schon handgreiflich geworden ist, hat sich die Mühe bereits gelohnt: „Es gefällt mir, wenn die anderen nett sind zu mir und ich nett bin zu ihnen“, sagt sie – und grinst Klassenkameradin Ronja dabei breit an.

Die Zehnjährige lebt seit einigen Monaten im Martin-Luther-Haus, ganz genau gesagt, seit 24. August Das Datum hat sie sich nämlich gemerkt. Seit Beginn des Schuljahres besucht sie auch die angegliederte Schule. Lernen, sagt sie, fällt ihr schwer. Unter der Umstellung, nun im Heim zu leben, hat sie hingegen nicht sehr gelitten: „Hier geht es mir viel besser“.

Immer wieder ist das aufgeweckte Mädchen von einer Pflegefamilie zur nächsten weitergereicht worden; wenn sie von ihrer leiblichen Mutter spricht, nennt sie diese „die echte“, an ihren Vater kann sie sich nicht mehr erinnern. Regelmäßig fährt sie an den Wochenenden zu eben dieser echten Mama und ihrer jüngeren Schwester. „Leider“ schicke ihre Mutter sie über die Weihnachtsferien ins Skilager, beteuert Ronja. Denn eigentlich möchte sie das Fest doch viel lieber im Kreis der Familie begehen.

So wie die meisten der rund 200 Heimbewohner, die über die Feiertage zu Eltern und Angehörigen fahren. Für jene, die nicht nach Hause können, weil es entweder kein Zuhause gibt oder die Erziehungsberechtigten kein Interesse an ihrem Nachwuchs haben, ist die stille Zeit schwer zu ertragen, erzählt Einrichtungsleiter Endres. Die Mitarbeiter organisieren deshalb für sie ein eigenes Fest – mit Gottesdienst, Weihnachtsliedern und Festmenü.

Aber auch jene, die die Möglichkeit zur Heimfahrt haben, gehen hoffentlich nicht leer aus. Die Viertklässler haben einige Wünsche an die Tafel geschrieben; in unserem Wunschzettel finden sich weitere. Die NZ hofft auch im Jahr, in dem das Martin-Luther-Haus mit Misshandlungs- und Missbrauchsvorwürfen gegen einen ehemaligen Leiter monatelang für NegativSchlagzeilen gesorgt hatte, auf Ihre großzügige Unterstützung. Es wäre schlimm, formuliert Leiter Endres treffend, wenn die heutigen Heimbewohner unter den alten Vorwürfen zu leiden hätten – und das womöglich zu Weihnachten, dem Fest der Liebe.
 

Wunschzettel:

Klasse 4 der Lehrerin Corinna Fäller
1. Sebastian: MP3–Player
2. Marina: Umhängetasche, Schal mit Glitzerfäden
3. Ronja: Mattel Figur Monster High (Tochter von Frankenstein, Frankie Stein), MP4-Player
4. Sven: Rubiks Zauberwürfel, Laserpointer
5. Jan: Laserpointer, Deutschland-Trikot Gr. M oder L
6. Daniel: „Need for Speed underground“ (Spiel für Nintendo DS), Laserpointer
7. Tom: Schwarzlichtröhre zum Hinstellen mit Stecker für die Steckdose, „Professor Layton und die verlorene Zukunft“ (Spiel für Nintendo DS)
8. Benjamin: I-Pod
9. Markus: Lego Ritterburg, Playmobil Ritterburg
10. Frederik: Mario Slam Basketball (Spiel für Nintendo DS, ein Kirby-Spiel für Nintendo DS)
11. Damian: Laserpointer, Rubiks Zauberwürfel
12. Lars: Ein Kirby-Spiel für den Nintendo DS, etwas von Lego Atlantis
13. Lehrerin Corinna Fäller wünscht sich für die Klasse mehrere MP3-Player; damit können die Schüler ein Diktat für sich immer wieder abhören, ohne dass sie dabei andere stören (bisher dient hierzu ein Kassettenrecorder)
 

Familienwohngruppe M.
1. Zwei Cityroller (für Zwölfjährige)
2. Fußball
3. Fußball-Schienbeinschoner (für Jungen von zwölf Jahren)
4. Fußballhandschuhe (für zwölfjährigen Jungen)
 

Familienwohngruppe H.
1. Handy
2. DVD-Player
3. MP3-Player
4. Gutschein für Zoogeschäft (Fische für Aquarium)
5. Gutschein für Media Markt
 

Familienwohngruppe E.
1. Maus für PC
2. Playstation-Portable-Essential „Worms open Warfare“
3. Buch „Drachenblut“
4. DVD „Beim Leben meiner Schwester“
5. DVD „Die wilden Hühner und das Leben“
 

Für alle: Kinogutscheine
 

Wer den Kindern eine Freude bereiten will, kann die Geschenke mit Namensanhänger im Nürnberger Martin-Luther-Haus, Neumeyerstraße 45, abgeben. Nähere Informationen erteilt Katharina Abt unter Tel. 0911/5201081 (8 bis 15 Uhr), Spendenkonto: 1002507501 bei der Evang. Kreditgenossenschaft eG, BLZ: 52060410, Verwendungszweck: MLS bzw. HPT.

 

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