Josef Salomonovic verbrachte seine Kindheit im KZ

28.4.2010, 00:00 Uhr

Wenn Josef Salomonovic (Jahrgang 1938) als Zeitzeuge von den Greueln des Dritten Reichs erzählt, müssen sich die Zuhörer im Dokuzentrum auf eine ungewohnte Perspektive einstellen. Es ist die Perspektive eines Kindes. Josefs erste Kindheitserinnerung: »Meine Mutter packt den Rucksack und erklärt: Pepek, wir machen einen Ausflug nach Polen.« Tatsächlich siedeln Josef (genannt Pepek), sein Bruder und die Eltern von Prag ins Ghetto von Lodz. Tausende Menschen auf engstem Raum, katastrophale Wasserversorgung, durchsickernde Latrinen. Der Vater arbeitet in einer Metallfabrik zur Munitionsherstellung, die Mutter verarbeitet Stroh für den Isolationsschutz in Soldatenmänteln. »Für die Soldaten, die dann in Stalingrad erfroren«, wie Josef Salomonovic anmerkt.

Weitere Kindheitserinnerungen: Die entsetzlich steile Leiter, die zum Dachboden hinaufführt, die kaum zu erreichenden Sprossen. Sie musste Pepek überwinden, wenn eine Sperre anstand, wenn die SS die Häuser nach »Parasiten« durchsuchte. Das bedeutete stundenlanges Ausharren in einem engen Verschlag, still sein, obwohl einem zum Heulen zumute war. Den Hintergrund konnte der Bub nicht begreifen, nur den Befehl »Still! Wenn du nur ein Wort sagst, sind wir alle verloren.«

Dann stand wieder ein Ausflug an. Im Viehwaggon nach Auschwitz. Pepek blieb bei seiner Mutter, kam mit ihr ins Frauenlager. Er musste sich ausziehen, den Kopf scheren lassen, die Kleider zur Entlausung abgeben. Die Erwachsenen bekamen dafür die frisch entlausten Kleider von ihren Vorgängern. Für Pepek lagen keine Kinderkleider bereit.

Hier hätte Schluss sein müssen. »Doch als ich zum Duschen gehen sollte, kam eine wunderschöne Frau, und führte mich wieder zurück.« Die Frau war eine Kapo, die die anderen Frauen gemein und grob behandelte. »Aber zu mir war sie nett.«

Von Auschwitz gelangte Familie Salomonovic ins KZ Stutthof im Norden Polens. Wie sah Josefs Kindheit aus? »In drei Jahren bin ich kaum gewachsen. Alle meine Milchzähne fielen aus, die anderen Zähne wuchsen nicht nach. Der ganze Mund tat mir weh.« Das wichtigste Utensil war ein Löffel, den Josef Salomonovic bis heute behalten hat. Damit schabte er rohe Kartoffeln zu Krümeln und Brei.

Die Überlebenden lagerten auf den Toten

Und wieder bleibende Eindrücke. Stundenlanger Zählappell in der Früh. Brach einer zusammen, ging das Zählen wieder von vorne los. Ebenso mussten alle antreten, wenn ein Flüchtling am Galgen gehängt wurde. »Ich konnte aber nichts sehen, der Rücken meiner Vorderfrau war zu groß.« Eines Tages meldete sich der Vater krank. Er ging aufs Krankenrevier und kam nie wieder.

Im November 1944 ging es im Viehwaggon nach Dresden. Wer von der Wegzehrung aß, bekam Krämpfe oder starb. Aus Platzmangel lagerten die Überlebenden auf den Toten. »Verglichen mit Stutthof war Dresden ein Paradies«, erinnert sich Josef Salomonovic. »Wir hausten in Zivilgebäuden, es gab Heizung und Toilette. Die Zählappelle waren harmlos, die Kranken wurden menschlich behandelt. Die Meister empfahlen den Bewachern, die Leute würden besser arbeiten, wenn man die Familien nicht auseinanderreißt.« War das Kalkül? War es ein Schlupfloch für letzte Reste von Menschlichkeit?

Dann entdeckte ein SS-Mann den Sechsjährigen in der Munitionsfabrik und wollte ihn als »Dreck« entfernen. Das war am 13. Februar 1945. Am selben Abend bombardierten die Engländer Dresden mit Phosphorbomben. »Als wir aus dem Keller wieder herauskamen, war der Asphalt so heiß, dass ich kaum darauf gehen konnte, mitten im Februar. Meine Mutter fand einen Sack Kartoffeln, die in der Hitze gebacken waren.«

Und wieder Eindrücke. Pepek entdeckt ein Tier, das er noch nie gesehen hat. Es zieht einen Karren voll Toter. Das erste Pferd in seinem Leben. »Auch Katzen und Mäuse hatte ich bis dahin noch nie gesehen. Nur Wachhunde.«

Von Dresden ging es auf einem Todesmarsch ins Sudetenland. Weg von den Russen. Wer unterwegs liegen blieb, wurde erschossen. Wenn Tiefflieger die Straße beharkten, sprangen Wachleute und Gefangene in die Gräben und verbargen sich unter Decken. Nach einem Angriff blieben Mutter Salomonovic und ihre Buben im Graben liegen. Solange, bis alle weg waren. »Dann rannten wir so schnell wir konnten in einen Wald.«

Das Kriegsende erlebte Pepek in einer Scheune nahe der deutsch-tschechischen Grenze. »Nach zwei Nächten im Heu durften wir hinaus. Im Hof stand ein Jeep. Die Helme sahen so anders aus. Und da war ein Mann, der war ganz schwarz«. Und endlich gab es etwas Süßes: fünf Liter Kirschenkompott.

Josef Salomonovic hat eine Tochter. Sie heißt Katja. Benannt hat er sie nach der Kapo-Frau, die zu den anderen Frauen so gemein war. Aber die ihn vor dem Duschraum bewahrt hatte. »Sie hieß Kati.« Reinhard Kalb

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