Die Nacht, in der in L‘Aquila die Welt einstürzte

7.4.2009, 00:00 Uhr
Die Nacht, in der in L‘Aquila die Welt einstürzte

© dpa

Alles begann um 3 Uhr 32 tief unter der Erde unter dem kleinen Örtchen Paganica, einem Vorort von L’Aquila. 20 Sekunden bebte hier die Erde, von hier breiteten sich jene Erdstöße aus, die im italienischen Fernsehen mit roten Kreisen dargestellt sind und in der Kürze der Zeit Orte zerstörten, die doch eigentlich so sorgenfrei klingende italienische Namen haben: Santo Stefano di Sessanio, Castelvecchio Calvisio, San Pio, Villa Sant‘Angelo. Doch seit gestern stehen diese Namen auch für bislang über 90 Tote, die in den Trümmern ihrer Städte ums Leben gekommen sind.

Montagmittag in L’Aquila: Schaut man gerade nach oben, dann wirkt alles friedlich, die Frühlingssonne fällt aus einem blauen Himmel in die Stadt hinunter. Doch blickt man geradeaus, sieht man eine junge Frau, Clara, rosa Schlafanzug, darüber eine Jacke. Die Jacke hat sie sich schnell noch übergezogen, als sie aus dem Haus stürzte, ein paar Sekunden nach «tre e trentadue», 3 Uhr 32, jener Uhrzeit, die minütlich in den Nachrichtensendungen wiederholt wird und schon jetzt im kollektiven Gedächtnis der Italiener eingebrannt zu sein scheint.

«Alles ist zerstört", sagt die junge Frau auf die Frage, was mit ihrem Haus passiert sei, «es war wie im Film, aber es war echt.» Gerade noch habe sie sich mit ihrem Verlobten retten können, doch selbst Stunden nach dem Beben kann sie das Zittern ihrer Hände noch immer nicht kontrollieren. «Was uns gerettet hat, ist ein großer Schrank in unserem Schlafzimmer, der die umstürzende Mauer gehalten hat. Sonst wäre alles über uns zusammengebrochen.»

Ein paar Meter weiter, in der Via XX. Settembre rufen Feuerwehrmänner, man solle ruhig sein. Sie graben in den Überresten eines komplett eingestürzten vierstöckigen Gebäudes nach einer vermissten Frau, Signora Anna, so sagen Umstehende, heiße sie. Mit einem Kran wollen sie das Dach heben, um die Frau zu retten. Weiter die Straße abwärts bergen Arbeiter des Zivilschutzes vier Studenten tot aus den Trümmern eines teilweise eingestürzten Studentenwohnheims. Einige Verletzte kommen in die Kirche San Salvatore, denn das örtliche Krankenhaus ist zu 90 Prozent zerstört. Vielen steht die Angst noch ins Gesicht geschrieben. Der Bürgermeister von L’Aquila, Massimo Cialente, sagt am Telefon: «Jetzt gerade, während ich mit Ihnen telefoniere, spüre ich schon wieder ein leichtes Beben.»

Halb Italien spürte das Beben, und weil es so stark war, dass selbst in Rom Regale und Lampen wackelten und viele Menschen mitten in der Nacht ihre Häuser verließen. Dass man es in Rom spüren konnte, war wie eine Vorhersage dafür, welches Grauen der Tag bringen würde. Morgens melden die Nachrichten noch 17 Tote, um 9.40 Uhr sind es 27, um 11 Uhr 40. Zur Mittagszeit kommen die Zahlen aus den kleinen, schwer zugänglichen Dörfern, es ist von 60 Toten die Rede, schließlich 92. Es hört nicht auf. Bis zum Abend sagen die Sprecher der Nachrichtensendungen immer denselben Satz: «Continua a salire il numero dei morti», die Zahl der Toten steige noch an.

Gleichzeitig beginnt die Diskussion, ob es so kommen musste, wie es kam. «Das ist ein Skandal, seit drei Monaten schon hat regelmäßig die Erde gebebt, die Behörden wissen das genau!», sagt Maria, eine junge Frau aus L’Aquila. Sie sitzt neben ihrem Auto, das mit zerdelltem Dach und zerborstenen Scheiben am Straßenrand steht. Trotzdem schiebt Maria ihre Koffer durch das Loch an der Stelle, wo einst die Windschutzscheibe war – sie hofft, dass der Wagen noch fährt und will «so schnell wie möglich» aus L‘Aquila fliehen, weil sie Angst vor Nachbeben hat.

Die Kirche ist nur noch eine Ruine

Beim Stand von 17 Toten berichtet die Online-Ausgabe von «La Repubblica» über den Erdbebenforscher Gioacchino Giuliani, der vor kurzem mit Hilfe eines von ihm entwickelten Messgerätes ein großes Beben in der Region um L‘Aquila vorausgesagt hätte; Giuliani misst das radioaktive chemische Element Radon im Boden. Das «Institut für Geophysik und Vulkanologie» verschickt eine Presseerklärung: «Wir unterstreichen, dass nach dem heutigen Wissenstand es nicht möglich ist, mit absoluter Sicherheit Erdbeben vorauszusagen.» (siehe auch Interview unten).

Im Fernsehen laufen unterdessen neue Bilder ein: Ein Mann mit baumstammdicken Armen und nacktem, von Staub überzogenem Oberkörper bricht weinend in den Armen eines Helfers zusammen; grauer Staub, dazwischen das grelle Rot und das grelle Gelb von den Jacken der Feuerwehrleute. Bewohner von L’Aquila werden gefragt, wo sie jetzt übernachten würden: «Wir wissen es nicht», sagt ein junges Pärchen unter einem strahlend blauen Himmel, «bei Freunden, im Auto, in einer Notunterkunft».

Im Hintergrund ziehen ein Mann und eine Frau zwei rote Rollkoffer hinter sich her. Hätte man sie gestern gesehen, man würde sagen, sie gehen in die Osterferien. Heute haben sie ihre Sachen zusammengepackt, um irgendwo schlafen zu können, wo es sicher ist. «Es sind Tausende, die L’Aquila verlassen, es ist ein biblischer Exodus», sagt ein Reporter: «Ich habe Leute gesehen, die mit Wasserflaschen herumlaufen, als wären es wertvolle Reliquien.»

Jene Stadt, Paganica, aus deren Tiefen das Unheil über die Abbruzzen kam ist mit am stärksten vom Erdbeben betroffen. «Wir wissen nicht wo wir heute übernachten, wir wissen nicht einmal, wo wir zu Abend essen», sagt eine Frau auf dem großen Platz vor der Kirche.

Die Kirche, in die am Sonntag noch viele Gläubige mit Ölzweigen zur Palmsonntagsprozession hineinzogen, ist nun eine Ruine, mühsam scheint sich die Fassade noch zu halten. Irgendjemand hat rote Plastikstühle in einem weiten Bogen um die Kirche gestellt. Sie sollen offenbar davor warnen, sich dem Gebäude zu nähern, akute Einsturzgefahr. Im Schatten der Kirche steht ein weißes Zelt. Hier liegen die Toten dieser Nacht. Es könnten noch mehr werden.

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