Spaziergang durch Googles Nürnberg

18.11.2010, 18:00 Uhr
Spaziergang durch Googles Nürnberg

© Screenshot

Meine Straße. Mein Fenster mit der roten Gardine dahinter, der Hauseingang. Alles ist auf Google Street View zu sehen, frei zugänglich für jeden – ab jetzt. Ein mulmiges Gefühl beschleicht mich, als ich heranzoome und plötzlich direkt vor der Fensterscheibe stehe. Glücklicherweise spiegelt das Glas, sonst hätte jeder einen direkten Blick in mein Wohnzimmer. Auch so sind immerhin die Umrisse meines Schreibtischstuhls und des Sofas sichtbar. Wer meine Adresse kennt, kann jetzt herausfinden, ob ich in einer baufälligen Baracke oder in einer Gründerzeitvilla wohne. Ob ich kitschigen Fensterschmuck mag oder ein protziges Auto fahre. Denn der Veröffentlichung habe ich nicht widersprochen, wie übrigens die meisten Nürnberger.

Street View ist einfach zu bedienen: Zuerst suche ich in Google Maps nach Nürnberg. Am oberen Ende der Zoom-Leiste taucht dann ein gelbes Männchen auf, das ich mit der Maus auf die Karte ziehe. Automatisch schaltet die Software auf die Straßenansicht um.

Wer durch die digitalen Straßen der Stadt schlendert, kommt fast überall hin. Selbst in kleine Gassen ist das Google-Auto gefahren, ich kann dort an die Schaufenster heranzoomen, das Fachwerk in der Altstadt bewundern. Damit ich mich umschauen kann, lasse ich die linke Maustaste gedrückt und bewege die Maus über das Bild – nach links oder rechts, oben oder unten. Der Navigation dienen die Linien auf den Straßen, die mit Pfeilen versehen sind: Nach einem Klick darauf verschiebt sich der Bildausschnitt. Freier navigieren lässt sich mit den grauen Kreisen. Ein Klick auf das Rechteck, und schon erscheint der Ausschnitt wie unter dem Vergrößerungsglas.

Fast 244.000 deutsche Haushalte haben Widerspruch eingelegt

Nachdem ich mich einige Minuten lang durch die Straßenzüge der Stadt geklickt habe, entdecke ich ein paar Gebäude im grauen Nebel. In der Albrecht-Dürer-Straße ist ein Haus nur verschwommen zu sehen, und am Maxplatz sind gleich fünf Häuser unkenntlich gemacht – hier haben die Bewohner offenbar kollektiv Widerspruch bei Google eingelegt. Fast 244.000 deutsche Haushalte haben das bisher getan. Im Vergleich zur Gesamtzahl sind das zwar wenige, dennoch stoße ich auch im Nürnberg-Atlas immer wieder auf verpixelte Fassaden. Die Stadt und die Kirche haben sich entschieden, nicht zu widersprechen. Ein Glück für die Nutzer, denn ohne Rathaus oder Frauenkirche wäre vom der viel gerühmten Altstadt nicht mehr viel übrig.

Auf geht es zur Touristenattraktion der Stadt, zur Kaiserburg. Sicherlich würde auch so mancher Besucher aus Japan gerne schon vor dem Urlaub einen Blick auf das Panorama der Stadt werfen. Tja, schade. Wer das will, muss immer noch selbst kraxeln oder sich mit Fotos begnügen: Street View führt zwar um die Burg herum und erlaubt auch den Blick nach oben. Hinauf kommt man aber nicht.



Als ich umkehre und das kleine gelbe Männchen auf den Albrecht-Dürer-Platz setze, färbt sich der Bildschirm schwarz: „Dieses Bild wird derzeit überarbeitet und wird demnächst zur Verfügung stehen“, lese ich. Einige Gassen und Teile der Fußgängerzone in der Altstadt sind zudem gar nicht zugänglich – dort ist das Auto mit der Kamera auf dem Dach offenbar nicht vorbei gekommen.

Wer seinen Nachbarn sieht, wird ihn auch erkennen

Schnell ziehe ich das Männchen auf den Hauptmarkt. Dort zeigt sich ein sommerlicher Anblick: Im Vordergrund ein Stand mit mediterranen Spezialitäten; sogar die Löffel sind zu sehen, die in den Brotaufstrichen stecken. Ein weiterer Mausklick, und ich stehe mitten in einer Rentnergruppe, die den Schönen Brunnen bewundert. Zwar sind die Gesichter verschwommen, so, wie der Internetkonzern es versprochen hatte. Aber wer seinen Nachbarn sieht, wird ihn auch erkennen. Und das kann durchaus in ein Dilemma ausarten. Zum Beispiel, wenn der ahnungslose Ehemann seine Frau eng umschlungen mit dem Arbeitskollegen in der Fußgängerzone entdeckt.

Oder, wenn der digitale Atlas Menschen zeigt, die inzwischen gestorben sind. Auf den Seiten des sozialen Netzwerks Facebook gibt es bereits erste Mitteilungen: Ein Nutzer aus Nürnberg erzählt, er habe in Street View seine Nachbarin entdeckt. Sie sei schon seit einigen Monaten tot. Er wird nicht der Einzige sein, der so etwas erlebt: Die Zeit bringt es mit sich, dass jeden Tag ein paar Verstorbene mehr auf Googles digitalen Straßen wandeln. Damit werden alle leben müssen – auch die trauernden Angehörigen.

Gesichter und Autokennzeichen macht die Software zwar automatisch unkenntlich. Dass Personen gelöscht werden, kann dagegen niemand beantragen. Und es wird wohl viele Jahre dauern, bis der Konzern seinen Straßenatlas aktualisiert. Bisher sind schließlich erst 20 Städte abfotografiert, ganz zu schweigen von kleineren Orten. Das Google-Auto wird also weiter durch Deutschlands fahren. Wahrscheinlich, bis der digitale Atlas so viel bietet wie in den USA – und dort deckt er nahezu das ganze Land ab

 

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