20. Juni 1965: Stimmt die Rechnung?

20.6.2015, 07:00 Uhr
20. Juni 1965: Stimmt die Rechnung?

© Gerardi

Die Stadtverwaltung gibt sich kaum noch Hoffnungen hin, daß ihrer Bitte entsprochen wird, den Termin um ein halbes Jahr oder noch länger aufzuschieben. Die Bevölkerung sieht dem 1. Juli mit geteilten Gefühlen entgegen. Für die Hausbesitzer bricht eine Zeit an, in der sie wieder frei über ihr Eigentum und den Mietpreis verfügen können; die Mieter befürchten eine Kündigungswelle und stark erhöhte Mietforderungen.

In einer großen Reportage unter der Überschrift „Viele sehen schwarz für den weißen Kreis“ hatten wir im August vorigen Jahres beide Seiten zu Wort kommen lassen. Heute wie damals begrüßen es die Hausbesitzer erfreut, daß der Wohnungsmarkt nach einem halben Jahrhundert aus den Fesseln der Zwangswirtschaft befreit und ihnen eine reelle Gewinnchance gegeben wird. Die Mieter wenden nach wie vor ein, daß das Gesetz über den Abbau der Wohnungszwangswirtschaft – nach ihrer Ansicht – dem Mietwucher und der Willkür Tür und Tor öffnet.

24.178 Fälle vorgemerkt

Die Stadt Nürnberg ist aus anderen Gründen dagegen zu Felde gezogen, daß sie in einen weißen Kreis umgewandelt werden soll. Sie bezweifelt bis zur Stunde die Berechnungen des Statistischen Bundesamtes in Wiesbaden, nach denen es seit Ende des letzten Jahres in Nürnberg nur noch ein Wohnungsdefizit von 1,2 v. H. geben soll. Bei ihren Protesten hatte sie außerdem darauf verweisen können, daß am 30. April 1965 beim Wohnungsamt noch immer 24.178 Fälle mit 60.395 Personen vorgemerkt waren, darunter 3.068 kinderreiche Familien mit 17.030 Menschen. Solche Einwände machten jedoch auf die Regierung keinen Eindruck.

Der Sozialreferent der Stadt, Dr. Max Thoma, dem auch das Wohnungswesen untersteht, sieht wohl ein, daß die Wohnungszwangswirtschaft in einem Gegensatz zur Eigentumsgarantie im Grundgesetz stand, er meint aber: „Wenn etwas zu heilen ist, hat man die Wahl zwischen einer behutsamen Behandlung und einer Roßkur.“ Der Lückeplan der Bundesregierung, der die Zwangswirtschaft aufhebt, sei jedoch nach seiner Auffassung eine Roßkur. Weite Kreise zeigten sich verbittert, weil sie einesteils ihrer sozialen Sicherheit (Mieterschutz) verlustig gingen.

5.516 Wohnungen von 1.870 gebaut

Am meisten hakt die Kritik bei jener Rechnung ein, die das Statistische Bundesamt aufgemacht hat. „Bei diesen Berechnungen wird der Wanderungsgewinn in der Bevölkerungszahl nicht berücksichtigt, der vor allem von Zuzügen der Evakuierten und Pendler herrührt“, erklärt Oberverwaltungsrat Dr. Oswald Fiedler, der Leiter des Amtes für Wohnungsbau und Siedlungsförderung. Daneben zähle der Luxusbungalow ebenso als eine Wohnungseinheit wie das heruntergekommene alte Gebäude, das aus städtebaulichen Gründen abgebrochen werden müsse. In Nürnberg gilt es allein 1.295 Anwesen mit 5.516 Wohnungen (das sind 3,75 v. H. des gesamten Bestandes), die vor 1370 gebaut worden sind.

20. Juni 1965: Stimmt die Rechnung?

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Solche Gebäude entsprechen heute längst nicht mehr den Anforderungen, die von den Menschen an ein Daheim geteilt werden. Trockenaborte, dunkle Zimmer und bauliche Mängel sind bei den meisten an der Tagesordnung. Dr. Fiedler verweist auch darauf, daß beispielsweise die Steinbaracken in Langwasser mitgezählt worden sind, die abgerissen werden müssen weil sie modernen Bauvorhaben im Wege stehen. In der Rechnung finden sich auch jene Häuser im Gebiet des künftigen Kanalhafens, für die erst Ersatz geschaffen werden muß. Die Stadt rechnet, daß sie für Verluste dieser Art in den nächsten Jahren 1.000 neue Wohnungen braucht. „Wenn wir die erwähnten Wohnungen einkalkulieren, so ergibt sich ein Fehlbestand von 13.577, das sind genau 8 Prozent“, meint Oberverwaltungsrat Dr. Fiedler. Hinzu kommt noch der Bedarf für Zuzug und Familiengründungen. Im Jahre 1964 seien 5.623 Fälle neu beim Wohnungsamt vorgemerkt worden. In den ersten fünf Monaten dieses Jahres wurde diese Zahl nicht geringer.

Dabei müsse daran gedacht werden, daß sich nur Leute eintragen ließen, die auf anderen Wegen keine Möglichkeit sehen, zu einer Wohnung zu kommen. Mehr als die Hälfte der Antragsteller in den Monaten April und Mai lebt schon in einer freifinanzierten Wohnung. „Diese Leute haben jahrelang eine starke finanzielle Belastung in Kauf genommen, um ein Dach über dem Kopf zu besitzen“, sagt Fiedler.

Solchen Anforderungen steht die Stadt beinahe machtlos gegenüber. „Unsere Möglichkeiten werden immer geringer. Wir können praktisch nur noch neugebaute Wohnungen vergeben, über die wir uns ein Verfügungsrecht mit städtischen Darlehen erkauft haben“, sagt Stadtrat Dr. Max Thoma. Bei 5.000 Wohnungen, die im vergangenen Jahr in Nürnberg fertiggestellt wurden, waren das nur 845. „Das ist bestenfalls ein Tropfen auf einen heißen Stein!“ Selbst im sozialen Wohnungsbau aber werden die Wohnungen von Jahr zu Jahr teurer. Man muß heutzutage mit einer Durchschnittsmiete von 2,60 DM pro Quadratmeter rechnen.

Künftig dürfen auch nur solche Leute in „Sozialwohnungen“ einziehen, die eine streng festgelegte Einkommensgrenze nicht überschreiten: 9.000 DM der Antragsteller, 1.800 DM jeder weitere Angehörige der Familie. Viele kommen erst in ein solches Heim, wenn sie ein Mieterdarlehen von 4.000 bis 6.000 DM auf den Tisch des Hausherrn legen können. „Wir haben nichts davon, wenn Bungalows und Familienheime zum Preis von mehr als 100.000 DM wie Sand am Meer angeboten werden, denn wir brauchen dringend Mietwohnungen“, meint Dr. Fiedler.

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