25. Januar 1967: Lehrfach Zähneputzen

25.1.2017, 07:00 Uhr
25. Januar 1967: Lehrfach Zähneputzen

© Gerardi

Der „Onkel Doktor“ will die Lawine stoppen und richtet in den Volksschulen „Zahnputzstuben“ nach eidgenössischem Muster ein. Im Schulhaus an der Wiesenstraße ist es schon so weit. Mindestens zweimal in der Woche säubern die Schülerinnen und Schüler aus zwei dritten und vierten Klassen unter der Aufsicht ihrer Lehrer gründlich die Beißerchen. Mindestens zweimal im Monat wird – überwacht vom Mediziner – ein hochwertiges Fluorpräparat eingeputzt, das den Zahnschmelz härtet.

Vor der Presse und im Scheinwerferlicht des Fernsehens fand gestern ein großes Probeputzen statt. Eine Stunde lang gurgelten die Kinder den Besuchern – unter ihnen Schuldirektor Kurt Gemählich und Stadtmedizinaldirektor Dr. Eduard David – begeistert vor.

Gehört das Lehrfach Zähneputzen wirklich in den Aufgabenbereich der Schule? Kurt Gemählich bejahte diese Frage, weil die Schule Lebenshilfe sein und das Verständnis für eine gesunde Lebensführung fördern sollte. Dennoch: weder dem obligatorischen Gesundheitsbericht noch den ständigen Appellen an die Elternschaft war bisher der gewünschte Erfolg beschieden. „Wir brauchen die Übung, der die Gewohnheit folgt!“, damit begründete Kurt Gemählich, weshalb das Zähneputztraining – Nürnberg gibt damit ein bayerisches Vorbild ab – eingeführt worden ist. Auch Dr. David, der Leiter des Städtischen Gesundheitsamtes, freute sich darüber. Die Ärzte seien über die Hilfestellung der Lehrer glücklich.

Wie notwendig die Partnerschaft zwischen Ärzten und Pädagogen ist, bewies insbesondere auch Dr. Rüdiger Luft – nicht nur mit seinem kurzen Lichtbildervortrag über die schlimmen Folgen schlechten Zähneputzens. Er hatte Zahlen parat, die geeignet sind, die Eltern aus der Lethargie zu reißen und zu veranlassen, die Sprößlinge auf den unschätzbaren Wert eines gesunden Gebisses aufmerksam zu machen: 20,5 v. H. der Abc-Schützen im Bereich der Schulzahnklinik leiden an faulen Zähnen, bei den Achtkläßlern beträgt der Anteil sogar 69,7 v. H. Von den 1.200 Kindern, die im Schulhaus an der Wiesenstraße unterrichtet werden, besitzen nur sechs makellose Zahnreihen.

Die Karies-Erkrankungen bräuchten nicht zu sein. Dr. Luft nahm sich kein Blatt vor den Mund, als er die Wurzeln des Übels nannte, die im schlechten Beispiel und in der Gedankenlosigkeit der Erwachsenen zu suchen sind. Die Eltern achten nicht auf die richtige Ernährung, sie geben den Kindern kein Pausenbrot mit, in das die Schüler herzhaft reinbeißen können, oder sie lassen alle Viere gerade sein, wenn sich die Buben und Mädchen mit Süßigkeiten die Zähne ruinieren. Dr. Rüdiger Luft setzt jetzt auf die Autorität der Lehrkräfte und dürfte kaum enttäuscht werden, zumal die Kinder mit viel Spaß bei der Sache sind.

Daß für die Aktion dritte und vierte Klassen ausgesucht wurden, hat seinen besonderen Grund: die Acht- bis Elfjährigen befinden sich in einer Entwicklungsphase, in der die bleibenden Zähne durchbrechen und sich deshalb eine Behandlung mit dem erprobten Fluor am günstigsten auswirken müßte. Die Erfolge in der Schweiz berechtigen jedenfalls zu den schönsten Hoffnungen. Der Rückgang der Karies-Erkrankungen beträgt dort bis zu 50 v. H.

Bis dorthin ist hierzulande freilich noch ein langer Weg. Aber der Anfang ist gemacht worden – im Schulhaus an der Wiesenstraße in einem Umkleideraum neben der Turnhalle, der zusätzlich mit abschließbaren Schränkchen für das „Handwerkszeug“ versehen wurde. Das Plätschern und Gurgeln, das aus diesem Raum dringt, sollte das Sturmsignal für einen Frontalangriff auf die feindlichen Karies sein.

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