26. Februar 1967: Besuch beim großen Bruder

26.2.2017, 07:00 Uhr
26. Februar 1967: Besuch beim großen Bruder

© Gerardi

Mit diesem Eindruck kehrten die Nürnberger Stadträte gestern abend aus der weiß-blauen Metropole zurück, die unvergleichlich baut und baut und baut, München gewinnt immer mehr, aber es verliert auch: die Weltstadt mit Herz muß darum fürchten, in Beton zu erstarren.

Dennoch schwingt sich Bayerns Landeshauptstadt zu einem Lehrmeister der deutschen Städte auf, der eine Fülle von Anregungen zu geben vermag und jeden Besuch lohnend macht.

26. Februar 1967: Besuch beim großen Bruder

© Gerardi

Sechs Jahre ist die Städte-Ehe zwischen München und Nürnberg alt: diese sechs Jahre haben aber auch genügt, diese beiden Städte durch ganze Welten zu trennen. Nürnberg ist traditionsbewußt geblieben und bemüht sich, sein Schicksal im Schatten des "Eisernen Vorhangs" zu meistern und eine neue Wirtschaftsblüte anzusteuern. München dagegen scheint alles in den Schoß zu fallen; die heimliche Hauptstadt der Bundesrepublik hat nicht nur nach dem Krieg einen ungeahnten Aufschwung erlebt, sondern erhält neuen Glanz als Stätte der Olympischen Spiele 1972. Nürnberg muß aus eigener Kraft für die Zukunft bauen, in München aber baut die ganze Bundesrepublik.

Tag und Nacht wird gearbeitet

Als wir vor fünf Jahren mit dem Brautbecher als Gastgeschenk in München einfuhren, da kamen wir in eine Stadt wie jede andere. Vorgestern aber entdeckten wir nach der stürmischen Fahrt im Omnibus eine Stadt, in der Tag und Nacht an der Untergrundbahn gebaut wird, in der Zahlen wie 540 oder 470 Millionen DM Baukosten kaltblütig genannt werden, die heute Nürnberg um zehn Jahre voraus zu sein scheint und in zehn Jahren einen Vorsprung von einem halben Jahrhundert haben wird. München bläht sich zu einem Riesen auf, gegen den Nürnberg auf die Dauer wie ein Zwerg erscheinen muß.

Um so erfreulicher ist es, daß Nürnbergs Oberbürgermeister und sein Stadtrat gerngesehene Gäste in München sind, daß die Landeshauptstadt keinem Größenwahn verfällt und auch noch Anregungen vom kleinen Nachbarn entgegennimmt. Aber es bleibt das Gefühl, daß auf lange Sicht die Nürnberger von den Münchnern lernen müssen, nicht nur bei der Untergrundbahn, die dort schon im Herbst zur Probe fährt, während hier erst in wenigen Wochen der erste Rammstoß für eine U-Bahn-Strecke getan wird. Wer künftig in die bayerische Landeshauptstadt kommt, wird sehen und staunen müssen.

Die Städte-Ehe aber soll Münchens Höhenflug überdauern, denn sie liegt - wie Oberbürgermeister Dr. Hans-Jochen Vogel zu berichten wußte - tief in der Geschichte begründet. Im Jahre 1322 schon kämpften die Nürnberger Schulter an Schulter mit ihren Münchner Kameraden in der Schlacht bei Ampfing, ausnahmsweise sogar auf der siegreichen Seite. Hans Sachs gab 1514 als Schuhmachergeselle ein eineinhalbjähriges Gastspiel in Bayerns Metropole und hat ihr sogar seinen ersten Meistergesang gewidmet. "Schuld ist die Meistersfrau, wenn es nicht 'Meistersinger von München‛, sondern von Nürnberg heißt", erklärte Dr. Vogel, denn Hans Sachs beschäftigte sich zu sehr mit der Frau Meisterin und wurde der Landesmetropole verwiesen.

Doch auch künftig wird es Gemeinsamkeiten zwischen Nürnberg und der Stadt München geben. Oberbürgermeister Dr. Andreas Urschlechter verwies darauf, daß eines Tages in beiden Städten die gleichen U-Bahn-Wagen fahren werden. Die Freundschaft soll dazu dienen, Geld für die großen Pläne hier wie dort flüssig zu machen, wobei München freilich am längeren Hebel sitzt. Und ein Ziel eint auch beide Städte, denn "wir wollen unseren Bürgern das Leben so angenehm wie möglich machen", sagte Dr. Urschlechter.

Nach solchen freundschaftlichen Reden in der Rats-Trinkstube erlebte der Nürnberger Stadtrat ein Stück Zukunft. Er stieg hinab in die Tunnelröhren der Münchner U-Bahn, die spätestens 1971 auf einer Strecke von 11,5 Kilometern fahren soll. Auf einem Schotterwagen der Bundesbahn durften die Gäste eine U-Bahn-Jungfernfahrt zwischen Nordfriedhof und Schenkendorfstraße erleben, denn drei Kilometer und drei Bahnhöfe des künftigen Netzes sind schon fertig.

"Warum nehmen Sie denn auf diesem Teilstück nicht schon den Betrieb auf?", fragte ein Nürnberger angesichts der Pläne, die erste U-Bahn-Strecke ausgerechnet von Langwasser zur Bayernstraße zu bauen, den Münchner Oberbürgermeister. Dr. Vogel entgegnete: "Die ganze Sache hat doch erst einen Sinn, wenn die U-Bahn mitten in die Stadt fährt, sonst müssen die Leute immer wieder umsteigen und von oben nach unten oder von unten nach oben marschieren!" Bei uns wird es sicher eine Weile dauern, bis die geplante U-Bahn in die Altstadt vordringt.

Staunten die Nürnberger schon darüber, wie in München unter der Erde gebohrt wird, oben jedoch der Verkehr fließt, so machten sie erst recht große Augen, als ihnen der Stachus des 20. Jahrhunderts vorgeführt wurde. Dieser verkehrsreichste Platz Europas bekommt für 90 Millionen Mark unter der Erde fünf Geschosse für Fußgänger; für die U-Bahn, für die V-Bahn (eine 4,2 km lange Eisenbahnstrecke vom Hauptbahnhof nach dem Osten; Kostenpunkt 480 Millionen Mark. Geld scheint in München eben kaum noch eine Rolle zu spielen.

Da läßt sich‘s leicht bauen

Die Landeshauptstadt und ihre Oberbürgermeister verstehen es bewundernswert, die Bundesrepublik an ihren ehrgeizigen Plänen zu beteiligen. Beim Stachus-Umbau wie bei der U-Bahn müssen Bund und Land kräftig in die Tasche greifen, aber auch die Bevölkerung und die Wirtschaft machen mit. "Für die sehr begehrten Läden und 800 Parkplätze mit Tankstelle unter dem Stachus bekommen wir jährlich ein so hohe Miete, daß wir zehn bis zwölf Millionen DM jährlich verzinsen und tilgen können", sagte Dr. Vogel. Der Fernsehturm auf dem Olympiagelände Oberwiesenfeld wird zu einem Drittel von der Bundespost bezahlt. Unter solchen Aspekten läßt es sich leicht bauen.

Einem Nürnberger bleibt jedoch das ungute Gefühl, daß München morgen das Paris Bayerns sein wird. Nürnberg muß in den kommenden Jahren alles tun, um verlorenen Boden wieder gut zu machen. Seine Pläne für eine Kanalhafen, für Europas größten Autobahnstern und für eine Zusammenarbeit mit den Nachbarn in Fürth, Erlangen, Schwabach und Lauf scheinen dazu angetan, die Stadt ein wenig aus dem Schatten des "Eisernen Vorhangs" herauszuführen. Trotzdem bleibt die Gefahr, daß Münchens Oberbürgermeister Dr. Vogel morgen schon von sich und seiner Stadt behaupten kann: "Der Staat bin ich!"

Verwandte Themen


Keine Kommentare