Als wir alle zusammen ein Baby bekamen

14.7.2018, 08:00 Uhr
Als wir alle zusammen ein Baby bekamen

© Stefanie Taube

Es ist Heiligabend – und gleichzeitig der 27. Geburtstag meiner Schwester Laura. Dieses Jahr ist er wirklich ausgesprochen schön, dieser Christbaum. Schön gerade, keine Löcher zwischen den Ästen, nicht zu buschig, aber auch nicht zu kahl. Dazu muss man wissen: Er ist Jahr für Jahr eine regelrechte Odyssee, dieser Baumkauf. Während ich meinen Papa also gerade noch für seine gelungene Wahl lobe, drückt mir meine Schwester eine kleine Holzschachtel in die Hand.

Ich öffne irritiert den Deckel, im Augenwinkel glaube ich ein leichtes Glitzern in Lauras Augen zu sehen. Es war ein komischer Moment. Aber ich habe an ihr eine neue Seite gesehen und wusste in diesem Augenblick nicht genau, wie ich sie deuten soll. Irgendetwas war anders – und ein kleines Stück Papier, das zusammengerollt in der Schachtel lag, war die Antwort. Ich habe dieses Stück Papier heute noch im Geldbeutel immer dabei. Es zeigt – etwas unförmig und in schemenhaftem Schwarz-Weiß – das, was fast genau sieben Monate später mein Patenkind sein wird.

Ich war überrascht, darauf absolut nicht vorbereitet – und vielleicht zum ersten Mal in meinem Leben sprachlos. Es vergingen wohl einige Sekunden, bis ich etwas gesagt habe. Mir schossen tausend Gedanken durch den Kopf. Ich fragte mich, wann meine kleine Schwester so erwachsen geworden ist. Das kleine blonde Schwesterherz, fast zwei Jahre alt, als es angefangen hat, richtige Sätze zu sagen, und auf die Frage, warum sie denn so lange nichts gesprochen habe, antwortete: "Warum? Meine Schwester hat doch immer für mich mitgeredet." Und zum vielleicht ebenfalls ersten Mal hatte ich keine Bedenken, keine Sorgen, nicht das Gefühl, ich müsste ihr helfen. Es schoss mir kein "Bist du verrückt?" in den Kopf und auch kein Satz irgendwo auf dem schmalen Grat zwischen Ratschlag einer großen Schwester und Klugscheißerei. Es war ein: "Wow, wir bekommen ein Baby?" Und ebenfalls zum ersten Mal war ich von etwas sofort absolut überzeugt. Wir bekommen ein Baby – und meine Schwester und ihr Freund werden das ganz ausgezeichnet meistern, dachte ich – und sollte recht behalten.

Aus Oma wird die Uroma

Als wir alle zusammen ein Baby bekamen

© Stefanie Taube

Das ist nun eineinhalb Jahre her. Ben feiert am 30. Juli seinen ersten Geburtstag. Meine Mama hat sich phasenweise widerwillig daran gewöhnt, dass man sie nun "Oma" nennt, meine Oma wiederum, so mein Eindruck, fand sich als "Uroma" von Anfang an super. Vielleicht auch, weil es meiner anderen Oma und auch den beiden Opas nicht vergönnt war, Ben kennenzulernen. Ben hat in den vergangenen Monaten das Familienleben umgekrempelt – und das meine ich allumfassend positiv. Na gut, fast. Es gibt da schon diese eine Sache.

Seit Jahrzehnten zierte den Garten meiner Eltern ein kleiner Weiher. Eines sonnigen Frühjahrstages besuchte ich nichtsahnend das elterliche Nest. Im Garten herrschte reges Treiben. Mein Papa – seines Zeichens auch stolzer Opa – plauderte mit zwei Männern, die gerade dabei waren, jede Menge Erde in den Weiher zu schaufeln. Wo ich einst als Kind fasziniert Wasserläufer beobachtet hatte, ist jetzt ein Blumenbeet, mit der Begründung: "Wenn mei‘ Ben dann irgendwann mal laufen kann, nicht dass da was passiert."

Ist ja sehr interessant... Hat sich denn 31 Jahre keiner gesorgt, dass ich eines Tages in den Weiher fallen könnte? Aber mal abgesehen davon, dass der einst weniger besorgte Papa nun ein sehr besorgter Opa ist, ist er vor allem auch gefühlt 20 Jahre jünger, seitdem "sei Ben" da ist. Jünger, glücklicher, zufriedener. Nicht, dass unsere Familie vorher unglücklich gewesen wäre. Aber wir waren vor dem 30. Juli manchmal nachdenklicher, etwas schneller genervt, durchaus auch zickiger. Wobei es hin und wieder natürlich schon Situationen gab im vergangenen Jahr, die durchaus im Zickenkrieg hätten enden können – oder zumindest in einer Diskussion.

Als wir alle zusammen ein Baby bekamen

© Stefanie Taube

Ben war fünf oder sechs Tage alt, als ich ihn zum ersten Mal gewickelt habe – besser: endlich wickeln durfte. Laura ließ ihn, mich und seine volle Windel dabei keine Sekunde aus den Augen. Als ich seine Beine anheben wollte, um ihn leichter saubermachen zu können, knallte mir direkt ein "Bist du verrückt???? Das darfst du so nicht machen! Da bekommt er doch einen Hüftschaden!" entgegen. Einen Hüftschaden... Ich halte das heute noch für Blödsinn. Aber – und das ist es vermutlich, was Ben an mir verändert hat – ich habe keinen Ton gesagt. Ich habe vor dem jungen Mann schon zig Babys gewickelt, ihren Hüften geht es meines Wissens bestens.

Aber auch wenn ich Ben gerne als "unser" Baby bezeichne, Laura ist immer noch seine Mama. Und wenngleich ich immer wieder möglichst unauffällig mit den Augen rolle, weil sie beim kleinsten Mucks sofort zu ihrem Kind rennt und ihn manchmal zu sehr verhätschelt – meine kleine Schwester macht es schon so, dass es passt. Nach 27 Jahren habe ich gelernt, dass Laura lange bewundernd zu ihrer großen Schwester hinaufgeschaut hat. Ein Jahr ist er nun da, der kleine Sonnenschein, "unser" Baby, und immer wenn ich ihn anschaue, schaue ich auch mit tiefer Bewunderung hinunter – auf meine kleine Schwester.

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