Ängstlich, aggressiv, depressiv – und Neonazi

26.5.2009, 00:00 Uhr
Ängstlich, aggressiv, depressiv – und Neonazi

© dpa

An einen Jugendlichen erinnert sich Kratz besonders. Dieser habe den ehemaligen Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan, als Beleg für die jüdische Weltherrschaft herangezogen. «Der Heranwachsende hatte zwar von Politik und Wirtschaft keine Ahnung, aber seine Theorien hat er ohne Sinn und Verstand groß vertreten«, erzählt der Psychiater. Die meisten der jungen Patienten werden nicht in erster Linie wegen ihres rechtsextremen Gedankenguts in der Klinik vorstellig, sondern aufgrund psychischer Beschwerden oder psychotischer Erkrankungen. Im Laufe der Gespräche entdecken Psychiater und Psychologen jedoch, dass sich diese Verhaltensauffälligkeiten auch in latentem oder offenem Rechtsradikalismus äußern.

Das Entsetzen

der Eltern ist groß

Bei jenen 14- bis 17-Jährigen, die während der Behandlung eine tiefbraune Ideologie erkennen lassen, handelt es sich oft um besonders ängstliche, depressive oder aggressive Jugendliche. «Sie haben Probleme in der Schule oder Schwierigkeiten im sozialen Bereich, tun sich schwer mit neuen Beziehungen«, erläutert Kratz. Vernachlässigte und benachteiligte Kinder fühlen sich zu radikalen Gruppen ebenso überdurchschnittlich stark hingezogen: «In diesem Kreis finden sie eine neue Heimat«, weiß Herlitz. Die Eltern würden immer fassungslos dastehen. Schon oft hat der Nürnberger Chefarzt den Satz gehört: «Das ist nicht das, was ich meinem Kind vermittelt habe.«

Das Entsetzen der Väter und Mütter ist groß; vor allem, weil viele von dieser Entwicklung ihres Kindes lange nichts mitbekommen. Die Jugendlichen suchen Informationen und Kontakte fast nur über das Internet. Die rechtsextreme Szene macht sich das zu eigen und versucht mit Musik, Videoclips und Mitmachportalen Jugendliche gezielt anzuwerben. Trotz ständiger Gegenmaßnahmen hat es 2007 so viele rechtsextreme Webseiten gegeben wie nie zuvor. Ganz bewusst setzen NPD und freie Kameradschaften dabei immer mehr jugendgerechte Lockangebote wie Videos als Handy-Version und beliebte Web-2.0-Angebote wie You Tube oder Schüler- bzw. StudiVZ ein. Mit Videoclips zum Runterladen, moderner Optik und Botschaften, die gerade unterhalb der Strafbarkeitsgrenze liegen, ermöglichen sie Jugendlichen eine schnelle und unkomplizierte Kontaktaufnahme, die darüber hinaus im Verborgenen abläuft.

Früher hätten die Eltern beim Telefonieren noch erfahren, mit wem sich ihre Kinder treffen, berichtet Kratz. Von diesen Beobachtungsmöglichkeiten seien die Väter und Mütter heute jedoch weit entfernt. Dieses Frühwarnsystem funktioniere heutzutage nicht mehr: «Noch vor einigen Jahren wussten die Eltern, wo und mit wem die Kinder ihre Zeit verbringen – das ist jetzt völlig anders.«

Vielleicht sind auch die Erziehungsberechtigten jener Jugendlichen ahnungslos, die immer wieder mit rechtsradikalen Schlachtrufen à la «Nationaler Sozialismus – jetzt, jetzt, jetzt« durch das oberfränkische Gräfenberg ziehen. Vor über einer Woche folgten erneut Dutzende Neonazis dem Aufruf des Fürther Rechtsextremisten Matthias Fischer, darunter überwiegend junge Menschen. Wie der etwa 17- oder 18-Jährige, der mit schwarzer Baseballmütze und Kapuzenjacke mitmarschiert. Angesprochen auf seine Beweggründe antwortet der Halbstarke nur kurz: «Dafür sind wir der falsche Ansprechpartner.«

Ein weiterer, noch recht junger «Kamerad«, der sich hinter einer großen Sonnenbrille versteckt, winkt ebenso ab: «Das wissen Sie doch«, meint er und wendet sich seinen Gleichgesinnten zu. Auch junge Frauen sind dabei. Ein hübsches Mädchen mit roten Strähnen im dunklen Haar meint lapidar: «Mit Ihnen reden wir nicht.«

Eine typische Reaktion, sagt der Rechtsextremismus-Experte und Gründer der Aussteigerinitiative «Exit«, Bernd Wagner. Das Verhalten der befragten Heranwachsenden zeige, dass sie schon fest in den organisierten Kern eingebunden seien. «Ihnen wird gesagt, sie sollen entweder den Mund halten oder auf eine exponierte Person verweisen – das ist ihre Medienstrategie«, führt der «Exit«-Geschäftsführer aus. Die «Frischlinge« würden genau instruiert, was sie zu tun und zu sagen haben. Der Gruppenzwang sei enorm: «Das läuft nach ähnlichen Mustern ab wie bei Sekten und Scientology.«

Alle ehemaligen Neonazis, die Wagner in seinem Projekt bislang betreut hat, berichteten von massivem psychischen Druck, seelischen Abstürzen und krankhaftem Fanatismus. «Die Mitglieder werden ständig in Alarmstimmung gehalten, immer bereit, dem Staat wehrhaft zu begegnen – geistig, körperlich und auch mit Gewalt«, erzählt der Ex-Kriminaloberrat. Ein junger Mann, den die NPD in Thüringen als aufstrebendes Nachwuchstalent verkauft, sei nach einem Suizidversuch schwer depressiv in einer Jugendpsychiatrie gelandet. In diesem Fall hatte sich die Elternhilfe an das Netzwerk gewandt. Wagner habe oft erlebt, wie Eltern mit ihren rechtsradikalen Kindern einen Psychologen oder Psychiater aufsuchen wollten: «Für die Betroffenen kommt das nicht infrage, solange sie dazugehören«.

Wie lange die Zugehörigkeit andauert, hängt für den Lehrstuhlinhaber für Psychologie an der Uni Erlangen und derzeitigen Direktor des kriminologischen Instituts der Universität Cambridge, Friedrich Lösel, sehr vom Freundeskreis und dem sozialen Umfeld ab. Aber auch Lösel macht gewisse Persönlichkeitsstrukturen wie emotionale Labilität oder ein besonders impulsives Temperament mitverantwortlich für die Anfälligkeit zu rechtsextremen Ideen. «Die Überweisungsgründe in die Psychiatrie sind so gut wie immer andere«, sagt der Wissenschaftler. Aber im Verlauf der Therapie sei es doch auffällig, wie viele der Patienten zu Rechtsradikalismus neigten.

Gerade bei straffälligen Jugendlichen werde geprüft, ob die Delikte auch politisch motiviert sind. Dabei stellt die Justiz oft einen rechtsradikalen Hintergrund fest. Bei Schmierereien mit eindeutigen «Hass«-Parolen oder Gewaltdelikten gegenüber Minderheiten sei dieser klar. Bisweilen müssen Sachverständige in einem Gutachten feststellen, ob der Heranwachsende für seine Taten überhaupt voll schuldfähig ist.

Grundsätzlich lohnt sich eine Therapie – für die verschiedenen Störungen und den überlappenden Rechtsradikalismus. Psychologen und Psychiatern müsse es gelingen, zu dem rechtsextremen Täter in einem einfühlsamen, aber kritischen Dialog eine Beziehung aufzubauen.

Die Ideologie müsse infrage gestellt und dem Jugendlichen die langfristigen Negativfolgen seines Handelns vor Augen geführt werden: «Mit reinen Vorwürfen kommt man nicht weiter – das geht meistens nach hinten los«, sagt Lösel.

Auch der Nürnberger Chefarzt Herlitz weist auf die Schwierigkeiten einer erfolgversprechenden Behandlung hin: «Wir müssen uns um das störungsspezifische Gesamtbild kümmern und uns dabei natürlich die rechtsradikale Gesinnung anschauen.«

Sein Erlanger Kollege plädiert vor allem für eine Art Resozialisierung der jungen Neonazis. Wenn die Heranwachsenden in der Therapie und nach und nach auch im Privaten immer mehr mit anderen, vernünftigen Menschen zusammenkommen, werde sich ihre ideologische Verblendung langsam geben, hofft Kratz. Verbote lehnt der Mediziner kategorisch ab: «Sobald ich einem Heranwachsenden den Aufmarsch in Gräfenberg untersage, tobt er sich im Internet aus.«

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