Die Ohnmacht der Opfer

6.12.2016, 20:33 Uhr
Die Ohnmacht der Opfer

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Rudolf Egg, der von 1997 bis 2014 die Kriminologische Zentralstelle des Bundes und der Länder in Wiesbaden leitete und trotz seines Ruhestandes ein passionierter Wissenschaftler ist, konnte diesen Forschungsauftrag einfach nicht ablehnen. Ähnliche „Vorkommnisse“ wie die in der Kölner Silvesternacht hatte es in Deutschland zuvor noch nicht gegeben. Und es war auch klar, dass die Tatenfülle schwer aufzuklären sein würde. Umso wichtiger war es, die polizeilichen Erstkontakte zu analysieren.

Eggs Arbeitsbedingungen gestalteten sich dabei nicht ganz einfach, wie er schildert. Er bekam zwar die insgesamt 1200 Anzeigen (die meisten davon gegen „Unbekannt“) zu Gesicht, aber oft eben nur ein Deckblatt, auf dem auch noch die Namen der Anzeigeerstatterinnen geschwärzt waren, und auf dem lediglich die Deliktart angekreuzt war sowie der Tatort und die ungefähre Tatzeit vermerkt waren. „Neben dem Haupttatort an der Domplatte kam es auch auf der Hohenzollernbrücke, im Bahnhofsgebäude und in den Zügen zu Übergriffen“, entnahm Egg den Anzeigen.

In den 1050 überhaupt nur verwertbaren Polizeibögen waren überwiegend Eigentumsdelikte angezeigt worden (47 Prozent), gefolgt von Sexualdelikten (30 Prozent). Schließlich gaben gut 17 Prozent der Anzeigeerstatter an, Opfer von sexueller Gewalt und Raub geworden zu sein.

Anhand der genannten Uhrzeiten konnte Egg feststellen, dass nach der polizeilichen Räumung der Domplatte am späten Abend noch mehr Gewalt an anderen Stellen im Umkreis verübt wurde, wo das Gedränge noch dichter wurde. Die polizeiliche Maßnahme der Absperrung war also eher kontraproduktiv gewesen.

Während laut Egg bereits in der Silvesternacht die ersten Strafanzeigen bei der Polizei eingingen, folgten die meisten in den ersten zwei Januarwochen 2016. Die Opfer meldeten sich aus vielen Bundesländern. Eine Anzeige kam sogar aus Belgien.

Gut ein Fünftel der Geschädigten kontaktierte die Polizei per Mail. Sobald sich Betroffene schriftlich an die Behörden wandten, bekam die Anzeige mehr Substanz: „Frauen beschrieben das Erlebte und wie sie sich gefühlt hatten“, so Egg. Die auf der Wache aufgenommen Anzeigen enthielten solche Angaben nicht.

Der Kriminologe konnte auch Zwischentöne einfangen und stieß mitunter auf Kurioses: So beschrieb ein Mann in seiner Anzeige, er sei betastet worden, bevor man ihm Handy und Geldbörse aus der Hosentasche zog. „Die Polizei wertete das Abtasten als Sexualdelikt,“ erinnert sich Egg. Auch eine in Zivil gekleidete Polizistin war unter den Opfern. Sie beklagte, dass weit und breit kein uniformierter Kollege in Sicht gewesen sei, der ihr hätte helfen können.

Ein Mann, der im Chaos einen Polizisten beschimpft hatte, erhielt von diesem eine Anzeige wegen Beleidigung. Und ein junger Syrer, der einer Gruppe von Frauen beistehen wollte, bekam eine Ladung Pfefferspray ins Gesicht.

 

Die Ohnmacht der Opfer

Was die Eigentumsdelikte betraf, so wurden ein Drittel Männer und zwei Drittel Frauen bestohlen und beraubt. Die Anzeigenaufnahme bei der Polizei erfolgte übrigens überwiegend durch männliche Beamte. Und obwohl die Geburtsdaten der Opfer auf den Anzeigebögen ebenfalls fast alle geschwärzt waren, konnte Egg ermitteln, dass das jüngste Opfer 15 und das älteste 65 Jahre alt war.

Was den Forscher bis heute umtreibt, ist die Frage, wie es zu diesen Massenübergriffen kommen konnte. Dazu gibt es seitens der Polizei keine Erkenntnisse. Egg hält es für unwahrscheinlich, dass die Taten im großen Stil durch eine „massenhafte Verabredung“ organisiert wurden. „Es muss aber zu Absprachen in kleinen Gruppen gekommen sein – durch Mundpropaganda oder soziale Medien“, vermutet Egg.

Das Phänomen der „sozialen Ansteckung“ sei hier zum Tragen gekommen: In der Menge, in der Anonymität und im Schutz der Dunkelheit sei es möglich gewesen, einfach mitzumachen – ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. Dieser „Zustand der scheinbaren Regellosigkeit“ hätte auch Unbeteiligte angezogen. Egg ist sich sicher: „Viele der Männer hätten diese Straftaten nie allein begangen.“

Auch wenn es nicht zu seinem Forschungsauftrag gehörte Präventiv-maßnahmen zu erarbeiten, so weiß Egg doch folgendes: Eine größere Polizeipräsenz wäre erforderlich gewesen – und: Die inzwischen auf den Weg gebrachte Verschärfung des Sexualstrafrechts bringt nur dann etwas, wenn man die Täter überhaupt ermitteln kann.

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