Die Suche nach der Wahrheit

9.1.2011, 09:00 Uhr
Die Suche nach der Wahrheit

© Michael Matejka

Am 19. Dezember 1833 wurde im Obduktionssaal der Gerichtsmedizin in Ansbach ein 21-jähriger Mann untersucht, zwei Tage zuvor war er an den Folgen einer Stichverletzung gestorben. Der Name des Toten: Kaspar Hauser.

Im Jahr 2003 wurde Kaspar Hauser erneut untersucht. Diesmal lag er auf einem Richtertisch im Landgericht Nürnberg-Fürth. Ein Schüler der Theatergruppe des Fürther Heinrich-Schliemann-Gymnasiums mimte Hauser. Der „Tag der offenen Tür“ lud ins Justizgebäude und Richter Ulrich Flechtner hatte sich dafür eingesetzt, dass die historische Improvisation zum mysteriösen Mordfall in diesem Rahmen aufgeführt wurde.

Erbstreitigkeiten, Intrigen und Mord sind die brisanten Zutaten in der Geschichte um das Schicksal Hausers. War der rätselhafte „Findling von Nürnberg“ ein einfacher Bauerntölpel, gar ein Betrüger? Bereits zu seinen Lebzeiten bewegte diese Frage die Gemüter des einfachen Volkes und die Gelehrten. Doch bis heute scheiterten alle Versuche, Licht ins Dunkel seiner Herkunft zu bringen, den Mordfall zu klären.

Kleine Indizien

Um eine Straftat zu rekonstruieren, reihen Ermittler und Juristen viele kleine Indizien aneinander – und hoffen so, aus den einzelnen Mosaiksteinchen ein stimmiges Gesamtbild zu erhalten. Jurist Ulrich Flechtner hält es mit seinem Hobby nicht anders. Immer wieder studiert er die Literatur und liest Berichte, mehrfach hat er die Schauorte des historischen Mordfalls aufgesucht.

So unparteiisch wie Ulrich Flechtner als neutrale Person, als Richter Gerechtigkeit gegen jedermann üben soll, so eindeutig fällt sein Urteil im Fall Kaspar Hauser aus: Der Junge, der mit etwa 16 Jahren in Nürnberg auftauchte, mühsam und ungelenk am Pfingstmontag 1828 durch die Gassen der Altstadt zum Unschlittplatz stakste, wurde Opfer eines blutigen Erbfolgestreits. Flechtner ist überzeugt, dass es sich bei dem jungen Mann um den Erbprinz von Baden handelte.

An jenem Pfingstmontag verrieten nur die beiden Briefe, die er bei sich trug, mehr als seinen Namen. Doch diskutiert wurden die dubiosen Schreiben bereits damals leidenschaftlich: Angeblich in einem Abstand von 16 Jahren gefertigt, wiesen beide Dokumente Kaspar Hauser als Findelkind aus – das erste sollte angeblich von seiner Mutter, einem „armen Mägdlein“, stammen. Der zweite Brief wurde angeblich 16 Jahre später von einem Taglöhner verfasst und behauptete, dass Kaspar gerade zum zweiten Mal ausgesetzt wurde.

Spuren lügen nicht, so eine Binsenweisheit unter Kriminalisten und Juristen – es sei denn, sie sind gefälscht. Tatsächlich ergaben spätere graphologische Untersuchungen, dass beide Briefe von ein und demselben Verfasser stammen. Die zwingende Frage, die sich Hauser-Forschern, Kriminalisten und natürlich auch Ulrich Flechtner automatisch aufdrängt: Wer hatte ein Interesse daran, eine falsche Fährte zu legen?

Ein Betrüger?

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Anselm von Feuerbach war damals der oberste Kriminologe des Königreichs Bayern. Seine Aufzeichnung über Kaspar mit dem Titel: „Verbrechen am Seelenleben des Menschen“ wurde das erste grundlegende Werk über den Findling, die Erstauflage erschien 1832. Doch selbst dieser Beschützer Hausers profilierte sich später auf dessen Kosten, setzte ihn einem lebensgefährlichem Risiko aus. Und nach seiner Ermordung denunzierte er ihn als Betrüger.

Flechtners Frage: Woher dieses Interesse, wenn Hauser doch bloß ein Bauerntölpel war? Gerüchte gingen bereits damals um: Kaspar sei das Opfer der Gräfin Hochberg geworden, der zweiten Frau des Markgrafen Friedrich von Baden. Sie habe dessen Nachwuchs beseitigen lassen, um ihren eigenen Sohn auf den Thron zu hieven. Tatsächlich starben alle Nachfahren der erbberechtigen Linie unter mehr oder weniger mysteriösen Umständen. Ulrich Flechtner hat das Pilsacher Wasserschloss, in dem Hauser jahrelang in einem dunklen Kerker versteckt worden sein soll, mehrfach besucht. Und er hat die Spuren gesehen, die der Schloss-Eigentümer entdeckte: Eine kindliche Skizze an der Wand, die ein Pferd zeigt, und auch das Holzpferdchen, mit dem Hauser in seinem Verließ gespielt haben will. Indizien, die die Kerkertheorie erhärten?

In Hausers Fall ist nahezu alles rätselhaft und mysteriös, es gibt 1000 Spuren, denen man nachgehen könnte, meint Flechtner. Doch ist dies noch nötig?

Theorie entzaubert

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Schließlich will der Spiegel im November 1996 die Theorie über die adelige Herkunft des Findlings entzaubert haben. Mit Hilfe einer DNA-Untersuchung wies das Magazin nach, dass der Blutfleck auf der Unterhose Hausers nicht mit dem Gencode der Abkömmlinge der Zähringer-Linie des Hauses Baden übereinstimmt. Das Ende des Erbprinz-Mythos? Jurist Ulrich Flechtner weiß genau, dass moderne kriminalistische Methoden viel später einen Mord lösen können – dennoch hält er an der Prinzentheorie fest.

Denn: Dieser Fall offenbart ein Problem der Gentechnik, das modernen Kriminalisten zu schaffen macht. Spuren lassen sich zwar häufig zweifelsfrei identifizieren, aber sie müssen auch zweifelsfrei dem Täter zuzuordnen sein.

Um im Gerichtssaal einen Angeklagten verurteilen zu können, muss die Indizienkette geschlossen sein. Trotz DNA-Nachweis sind häufig weitere Gutachten, etwa über Blutalkohol, eine toxische Expertise oder auch die Obduktion der Leiche notwendig. Fraglich ist, so Flechtner, ob das Blut auf der untersuchten Unterhose tatsächlich von Hauser stammt. Eine Frage, die der Richter auch, wäre es ein aktueller Fall, in einem Prozess eindeutig beantworten können müsste.

Tatsächlich entzauberte ein weiteres DNA–Gutachten Jahre später das Nachrichtenmagazin Spiegel. 2002 untersuchte der Münsteraner Rechtsmediziner Bernd Brinkmann im Auftrag des ZDF eine Haarlocke Hausers und verglich mit der DNA einer lebenden Nachfahrin des Hauses Baden. Diesmal hieß es, die Spur führe doch ins Fürstenhaus. Der Mythos lebt weiter, so Flechtner. Und würde der Mordfall Kaspar Hauser doch geklärt werden können? Dann gibt es noch einen offenen Fall, der den Richter fesseln könnte: Das Grabtuch von Turin, das von vielen Gläubigen als das Tuch verehrt wird, in dem Jesus von Nazareth nach der Kreuzigung begraben wurde. Das Tuch bleibt eines der am meisten untersuchten Artefakte in der Geschichte der Menschheit und eines der umstrittensten – wie geschaffen für einen Mann, der gerne in einer diffusen Indizienlage zu einem Ergebnis kommt.