Ein Spiegel der deutschen Historie

21.5.2014, 00:00 Uhr
Ein Spiegel der deutschen Historie

© Stadt Nürnberg

Noch um 1900 war das Areal des heutigen Stadtteils Langwasser Teil des Nürnberger Reichswaldes. Dann diente es der bayerischen Armee als Gefechtsschießplatz. Nach großen Waldbränden am Ende des Ersten Weltkrieges bauten in den 1920er Jahren Hunderte von Arbeitslosen hier Kartoffeln und Getreide für die notleidende Nürnberger Bevölkerung an, ehe die Nationalsozialisten das ganze Gebiet als Teil des Reichsparteitagsgeländes in Beschlag nahmen.

Am Ende der „Großen Straße“ entstand dabei das „Märzfeld“ für Kriegsvorführungen der Wehrmacht, dahinter baute man den „Bahnhof Märzfeld“. Daran schlossen sich riesige Lager für über 120000 SA-Männer, für den Reichsarbeitsdienst, für die Hitlerjugend und andere NS-Organisationen an. Diese Lager dienten im Zweiten Weltkrieg als Gefangenenlager für unzählige polnische, französische und sowjetische Soldaten. Vom Bahnhof „Märzfeld“ aus wurden 1941/42 die fränkischen Juden in die Vernichtungslager deportiert.

Nach Kriegsende brachten die Amerikaner auf einem Teil des Lagergeländes ehemalige Fremdarbeiter („DPs“ oder displaced persons) im sogenannten „Valka-Lager“ unter, also Menschen, die im Dritten Reich gegen ihren Willen nach Deutschland zur Zwangsarbeit gebracht worden waren. Auf einem benachbarten Teil des Geländes warteten 4000 inhaftierte SS-Angehörige auf ihre Aburteilung.

Ein Spiegel der deutschen Historie

© Gertrud Gerardi

Als das SS-Lager 1949 aufgelöst wurde, fanden hier Heimatvertriebene aus Schlesien und dem Sudetenland ein neues Zuhause. Im Flüchtlings- und im „Valka-Lager“ gab es Schulen, Kirchen — sogar eine russisch- orthodoxe —, Sportplätze, Jugendheime, Kindergärten, Geschäfte, Gaststätten, Werkstätten, Arztpraxen, eine Polizeistation, ein Postamt und einen Friedhof.

Die „Ureinwohner“ von Langwasser setzten sich aus vielen Nationen zusammen, in erster Linie waren es aber Heimatvertriebene aus Schlesien und dem Sudetenland sowie Nürnberger, deren Häuser in Trümmern lagen und für die am Rande der Barackensiedlungen die ersten Häuser gebaut wurden. 1953 wurde ein Teil des „Valka-Lagers“ ummauert und zur zentralen deutschen Aufnahmestelle für Asylbewerber und illegale Ausländer.

Die Stadt Nürnberg begann in den 1950er Jahren, auf dem Langwassergelände einen neuen Stadtteil für über 30000 Menschen zu planen und führte dafür 1956 einen Ideenwettbewerb durch. Das Ergebnis war ein im Vergleich zu vielen anderen zu dieser Zeit auf dem Reißbrett entstandenen deutschen Trabantenstädten zwar außerordentlich erfreulich, doch die Zeugnisse der Geschichte wurden ganz bewusst restlos beseitigt.

Das Preisgericht zum Ideenwettbewerb hatte ausdrücklich formuliert: „Die baulichen Rudimente der letzten zwei Jahrzehnte dürfen die neue Wohnstadt weder materiell noch psychologisch beeinträchtigen.“ Das bedeutete: Weg mit den Märzfeldtürmen! Weg mit allen Holz- und Steinbaracken! Weg mit provisorischen Schulgebäuden, Jugendheimen und Kirchen!

Nach dem heutigen Verständnis von Denkmalschutz war das eine absolute Todsünde, denn historische Zeugnisse, die die gegenwärtige und nachfolgende Generationen als „kulturelles Erbe“ über das frühere Leben und vergangene Ereignisse informieren können, müssen nach den gültigen Denkmalschutzgesetzen erhalten bleiben.
Man hätte ja nicht gleich die gesamten Barackensiedlungen erhalten müssen. Aber wenigstens eine oder zwei Wohnbaracken oder eine der Holzkirchen oder eine große Schulbaracke hätte man in die neue Stadtlandschaft intelligent einbinden können. Auch einen der Märzfeldtürme hätten die Planer stehenlassen müssen, etwa als Glockenturm für eine Kirche. Den Vorschlag gab es damals.

Ein Spiegel der deutschen Historie

© Gertrud Gerardi

Die Versäumnisse schob man später dem damals herrschenden Zeitgeist des „Vergessen-Wollens“ in die Schuhe, aber es war wohl eher das schlechte Gewissen der seinerzeitigen Architekten, die ja zum größten Teil schon in der Nazizeit Verantwortung getragen hatten und eher ihre eigene Vergangenheit verdrängen wollten. Aus der gleichen Motivationslage heraus dürften damals die Säulen der Zeppelintribüne gesprengt worden sein.

Dass etwa die an der Glogauer Straße gelegene katholische Holzkirche „Zum guten Hirten“ inzwischen die ideale Räumlichkeit wäre, um die wechselvolle Geschichte Langwassers in einer Dauerausstellung zu zeigen, habe ich bei zahlreichen Führungen und Vorträgen immer wieder betont.
Weil es ein solches Museum nicht gibt und sich mangels historischer Bauten Langwasser, im Gegensatz zur Nürnberger Altstadt, nicht von vorneherein als begehbares Geschichtsbuch anbot, hat sich die von mir initiierte „Geschichtswerkstatt Langwasser“ in den letzten Jahren intensiv darum bemüht, die beispielhafte Geschichte Langwassers durch eine große Ausstellung im Frankenzentrum, durch Führungen, durch das Internetprojekt „Langwasser-Klick“ oder durch Informationstafeln wieder „sichtbar“ und erlebbar werden zu lassen.

Aber dennoch, oder vielleicht deshalb, vermissen immer mehr junge und ältere Menschen einen Ort, in dem die Geschichte Langwassers ständig gezeigt wird. Wobei es inzwischen nicht mehr alleine um die Geschichte der Vorkriegszeit, der Nazijahre und der unmittelbaren Nachkriegszeit geht, sondern auch um Langwasser als lebendigen Stadtteil, in dem in den letzten Jahrzehnten viele Tausend Zuwanderer als „Migranten“ — insbesondere aus den früheren Ostblockstaaten — eine neue Heimat gefunden haben. So ist Langwasser zu einem Ort erfolgreicher Integration geworden, an dem auch die Geschichte und die Geschichten vieler Menschen aus den unterschiedlichsten Herkunftsländern zusammenfließen.

Ein Museum in Langwasser wäre mehr als ein herkömmliches Heimat- oder Stadtteilmuseum mit regionaler Relevanz für die hier ansässige Bevölkerung. Es hätte wegen seiner authentischen Verknüpfung mit der deutschen Geschichte und wegen seiner räumlichen Verbindung mit dem ehemaligen Reichsparteitagsgelände Bedeutung für ganz Nürnberg und weit darüber hinaus. Als historische Brücke von einem menschenverachtenden Unrechtssystem über Krieg und Unheil zu einer multikulturellen Stadtgesellschaft und als geografisches Scharnier zwischen dem Größenwahn des monumentalen Parteitagsgeländes und der modernen, demokratischen Stadtplanung, würde es ein besonderer Lern- und Kulturort werden.

Da das Museum zudem in eine multikulturelle Umgebung eingebettet ist, kann nicht nur auf der Grundlage der Erfahrungen der deutschen Vergangenheit heraus, sondern auch aus der vielfältigen Herkunftsgeschichte der hier lebenden Menschen und aus deren gegenwärtigem, alltäglichem Lebenskontext heraus darüber nachgedacht werden, wie es in einer modernen Gesellschaft zu Hass, Diskriminierung und Gewalt kommen konnte beziehungsweise kommen kann und wie dem entgegengewirkt werden müsste. Wie sich mehr Gerechtigkeit und ein friedliches Zusammenleben von Menschen realisieren ließe, was für Integration und gegen Ausgrenzung zu tun ist, wie man am politischen Leben teilhaben kann und was sich zur Immunisierung gegen radikale Kräfte machen lässt.

Wie könnte ein solches Museum aufgebaut sein? Über die Inhalte sowie über die Gliederung und die Präsentation von Objekten in einem solchen Langwasser-Museum müsste ausführlich unter Beteiligung von Historikern, Museumsfachleuten, Pädagogen etc. sowie von „Normalbürgern“ nachgedacht und diskutiert werden. Die Bevölkerung sollte intensiv eingebunden werden, indem man zum Beispiel zum Sammeln und zur Bereitstellung von Ausstellungsobjekten oder Material für Installationen, persönlichen Berichten, Dokumenten und Bildern aufruft.

Es gibt in Langwasser noch zahlreiche Bewohner, die Dokumente aus früherer Zeit und Fotos besitzen oder Gegenstände aus der Lagerzeit bzw. solche, die sie aus ihrer Heimat mitgebracht haben. Das kann von Andenken über Haushaltsgeräte, Werkzeuge und Kleidung bis zu Spielzeug reichen. Außerdem gibt es geeignete Objekte in den Depots anderer Museen (vor allem im Dokuzentrum), die dort aktuell nicht verwendet werden. Bildmaterial ist inzwischen in den Archiven des Gemeinschaftshauses, der wbg oder des Stadtarchivs in aller Breite vorhanden.

Eine Attraktion könnte auch die Gegenüberstellung von Modellen des Langwassergebietes sein, die die Topographie des Geländes zu verschiedenen Zeiten (vor 1933, Lagerzeit, heute) zeigen, wobei ein ziemlich aktuelles Modell im Eingangsbereich der wbg steht und als Vorbild dienen könnte. Und selbstverständlich würden moderne audiovisuelle Mittel eine große Rolle spielen, etwa Zeitzeugenberichte, Filmausschnitte, Zeitreisen, Computeranimationen und so weiter.

Als Gebäude wären rein äußerlich die Rekonstruktion eines früheren Lagergebäudes denkbar, etwa der bereits genannten katholischen Kirche. Auch die künftig nicht mehr benötigten Pavillons der Dependance der örtlichen Grundschule an der Karl-Schönleben-Straße könnten an eine andere Stelle versetzt werden. Natürlich käme auch ein neues Gebäude infrage.

Als Standort wäre wohl eine Stelle am Ende der Großen Straße nördlich des Areals des geplanten Neubaus der Bertolt-Brecht-Schule am besten. Dieses Schulgebäude spielt künftig städtebaulich und historisch insofern eine sehr wichtige Rolle, als es die Verbindung vom noch sichtbaren Reichsparteitagsgelände zu dessen nicht mehr sichtbarem Bestandteil „Märzfeld“ bilden wird, aber zugleich die optische Abgrenzung zwischen diesen Bereichen darstellt. Es verbindet beziehungweise trennt die Relikte der menschenverachtenden Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten und deren demokratischen Gegenpol, den Stadtteil Langwasser. Aber auch südlich der neuen Bertolt-Brecht-Schule fände das Museum einen guten Platz.

Eine Lösung im Zusammenhang mit dem ehemaligen Bahnhof „Märzfeld“ als einzigem einigermaßen erhaltenen Baurelikt der Nazizeit scheint allerdings problematisch, nicht nur wegen der angesichts der vorhandenen desolaten Bausubstanz zu erwartenden immensen Baukosten, sondern auch deshalb, weil sich dieser Bahnhof zum Symbol für die Vernichtung der Nürnberger Juden entwickelt hat, also eher den Charakter einer Gedenkstätte haben sollte als den eines lebendigen Museums.

Eingebettet sein könnte die Planung eines Langwasser-Museums in eine zukunftsweisende kulturelle, pädagogische und touristische Gesamtplanung für das Reichsparteitagsgelände, was sich im Zusammenhang mit der sehr teuren Sanierung und künftigen Verwendung der Zeppelintribüne ohnehin als Aufgabe stellt. Als Träger des Museums kämen in erster Linie die Museen der Stadt Nürnberg infrage, etwa eine „Außenstelle“ des Dokumentationszentrums. Ehrenamtlich Hilfe könnte von Langwasser kommen.
 

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