Gutachten zu sexuellem Missbrauch

"Bilanz des Schreckens": Mindestens 497 Missbrauchsopfer im Erzbistum München

20.1.2022, 16:00 Uhr
Eine vom Bistum München beauftragte Anwaltskanzlei hat am Donnerstag ein Gutachten über Missbrauchsfälle vorgestellt.

© Peter Kneffel, dpa Eine vom Bistum München beauftragte Anwaltskanzlei hat am Donnerstag ein Gutachten über Missbrauchsfälle vorgestellt.

Das vom Bistum in Auftrag gegebene Gutachten beschädigt auch den früheren Erzbischof und emeritierten Papst Joseph Ratzinger respektive Benedikt XVI. und den amtierenden Münchener Erzbischof Kardinal Reinhard Marx. Die mit dem Gutachten vom Erzbistum beauftragten Anwälte Ulrich Wastl und Martin Pusch sprachen selbst von einer "Bilanz des Schreckens".

Ratzinger und Marx wird wie anderen hohen kirchlichen Amtsträgern des Bistums seit 1945 vorgeworfen, sich bei Bekanntwerden von Fällen des sexuellen Missbrauchs durch Kleriker sich zu allererst um das Ansehen der Kirche und nicht um die Nöte der Betroffenen gesorgt zu haben, im Falle des ehemaligen Papstes und des amtierenden Kardinals allerdings in weit weniger gravierenden Fällen als bei ihren Vorgängern und anderen hohen Würdenträgern des Erzbistums. Rechtsanwältin Marion Westpfahl sprach von einem "erschreckenden Phänomen der Vertuschung." Diese sei nichts weniger als "Verrat an den Grundlagen christlichen Glaubens."

Der Ex-Papst steht bei den unabhängigen Gutachtern der Münchener Anwaltskanzlei Westpfahl Spilker Wastl im Verdacht, in seiner 82-seitigen Stellungnahme die Unwahrheit gesagt zu haben. Man halte es für "überwiegend wahrscheinlich, dass Ratzinger als Erzbischof von den pädophilen Vorbelastungen des Geistlichen Peter H., der in dem Gutachten als "Priester X" bezeichnet wird, gewusst zu haben, als dessen Versetzung ins Bistum München in einer Ordinariatssitzung am 15. Januar 1980 zugestimmt wurde.

Was die Ermittler stutzig macht, ist die Tatsache, dass eine Protokollnotiz zu dieser Sitzung mehrfach Ratzinger erwähnt, dieser aber bei dem Treffen gar nicht anwesend gewesen sein will. Dabei verweise der Ex-Papst selbst auf sein außerordentlich gutes Langzeitgedächtnis, sagte Rechtsanwalt Wastl. Die Aktenlage sei mit Benedikts Angaben "nur schwer in Einklang zu bringen", fasste Pusch zusammen.

Benedikt XVI und die "Aktenlage"

"Priester X" hatte sich vor der Abschiebung aus dem Bistum Essen nach München schon mehrmals des Missbrauchs schuldig gemacht. Den Münchener Kirchenführern sei bekannt, dass er sich in psychotherapeutischer Behandlung befunden habe. Das Amtsverständnis der Kirchenoberen hätte unbedingt geboten, nachzufragen, sagte Rechtsanwalt Wastl. Er könne sich schwer vorstellen, dass dies nicht erfolgt sei. Ratzinger wird noch in drei weiteren Fällen bescheinigt, sich als Erzbischof bei Bekanntwerden von Missbrauchsfällen nicht richtig verhalten zu haben.

Den amtierenden Münchener Erzbischof Marx hatte die Kanzlei zur Vorstellung ihres mehr als 1.800 Seiten umfassenden Gutachtens eingeladen. Er war jedoch nicht erschienen, was Anwältin Westpfahl nicht nur bedauerte, sondern auch kritisierte. Es wäre im Interesse der Betroffenen gewesen, auch auf diese Weise wahrgenommen zu werden. Die Gutachter machen Marx vergleichsweise weniger schwerwiegende Vorwürfe des "fehlerhaften Verhaltens" in zwei Fällen.

Der amtierende Oberhirte des Bistums zeige zwar grundsätzlich Offenheit gegenüber der Missbrauchs-Thematik, räume aber im konkreten Fall nur eine "moralische" Verantwortung ein, sagte Anwalt Pusch. So leicht darf es sich Marx nach Einschätzung der Gutachter aber nicht machen. Anstatt auf unterstellte Funktionsträger zu verweisen, hätte Marx die ihm bekannten Fälle zur Chefsache machen müssen. Marx hatte im vergangenen Jahr dem Papst seinen Rücktritt angeboten, was dieser jedoch ablehnte. Es ist nicht klar, ob dieser Schritt in Zusammenhang mit der Missbrauchsthematik stand.

"Verdrängung eines Problems"

Die zahlreichsten und schwersten Fälle von sexuellem Missbrauch durch Kleriker und deren Vertuschung im Bistum München haben sich nach den Feststellungen der Gutachter in den Jahren vor 2002 abgespielt. Von 1945 bis 2019 sind nach den Ermittlungen 247 Jungen und 182 Mädchen Opfer von sexuellen Übergriffen von 173 Priestern, neun Diakonen, fünf Pastoral- und Gemeindereferenten und 48 Angehörigen anderer Berufsgruppen aus dem kirchlichen Bereich geworden. Obwohl sich die Gutachter nicht nur auf die Aktenlage verlassen, sondern auch zahlreiche Zeugen befragt hätten, müsse man davon ausgehen, dass das "Dunkelfeld" noch sehr viel größer sei.

Die Reaktion der Amtskirche auf bekannt gewordene Verfehlungen sei in den meisten Fällen von "vollständiger Nichtwahrnehmung der Opfer", Desinteresse an deren Schicksalen und der "Verdrängung eines mit Händen zu greifenden Problems" gekennzeichnet gewesen, kritisieren die Gutachter. Den Verweis auf den in früheren Jahren anders gearteten "Zeitgeist" lassen sie nicht gelten. Seit jeher sei Sex mit Minderjährigen strafbar, legte Pusch dar. Und auch schon früher sei klar gewesen, dass entsprechende Handlungen Langzeitfolgen für die Opfer mit sich bringen.

Kratzer an Denkmälern

An den Denkmälern der Urgesteine der katholischen Nachkriegsgeschichte von München und Freising entstehen durch das Gutachten schwere Kratzer und Risse. Marx' Vorgänger Friedrich Kardinal Wetter (von 1982 bis 2008) wird "fehlerhaftes Verhalten" in 21 Fällen vorgeworfen. Dabei müsse man berücksichtigen, dass Wetter immerhin ein Vierteljahrhundert im Amt war, sagte Pusch. Allerdings habe sich in seiner Amtszeit die Missbrauchs-Thematik erst so richtig "verdichtet", was zu mehr Sensibilität hätte führen müssen. In 14 Fällen das Image der Amtskirche und die Interessen des Klerus vor die der Geschädigten gestellt zu haben, wird Julius Kardinal Döpfner (von 1961 bis 1977) vorgeworfen. Weihbischof Matthias Defregger (von 1968 bis 1990) werden sieben solcher Fälle nachgewiesen; er war 1968 in dieses Amt trotz seiner mittelbaren Mitwirkung an einem Kriegsverbrechen in Italien im Zweiten Weltkrieg berufen worden.

Besonders ins Visier gerät Bistums-Offizial Lorenz Wolf. Der oberste Kirchenrichter der Diözese war der einzige noch lebende Betroffene, der den Ermittlern die kalte Schulter zeigte und die Legitimität der vom Bistum beauftragten Gutachter bestritt. Wolf habe in mindestens zwölf Fällen erforderliche Maßnahmen nicht umgesetzt. Es dränge sich der Eindruck auf, dass bei ihm die Interessen der Priester im Vordergrund standen, sagte Pusch.

Anwalt Wastl empfahl den Auftraggebern des Gutachtens unter anderem, einen "geschützten Raum" für die Opfer zur Verfügung zu stellen. Dabei dürfe ihnen nicht jemand gegenübersitzen, der "einen weißen Kragen zum schwarzen Hemd" trägt, so der Anwalt: "Jede Aufarbeitung ohne die Betroffenen führt zu nichts." Nach Wastls Ansicht ist fraglich, ob eine umfassende Aufklärung noch möglich ist. Mit jedem Jahr werde die Zahl derer, die noch zur Aufklärung beitragen könnten, weniger. Die Befunde seien stets ähnlich, stellte Wastl fest: "Wie viele Gutachten und Studien braucht das Land eigentlich noch?"

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