Erlangen befindet sich auf gutem Weg zur Inklusionsstadt

5.11.2016, 14:00 Uhr
Erlangen befindet sich auf gutem Weg zur Inklusionsstadt

© Ralf Rödel

„Die Räder ein Stück weiter hinten greifen, etwas zurücklehnen und dann gerade und mit Schwung hinauf“, ruft mir Heidi zu, als ich vor meinem ersten Hindernis stehe: Der Bordsteinkante an der Kreuzung vor dem Zentrum für selbstbestimmtes Leben Behinderter (ZSL). Es dauert eine Weile, bis ich den Bogen raus habe, aber nach und nach bekomme ich ein Gefühl dafür. Meine Begleiterin, die seit ihrem sechsten Lebensjahr im Rollstuhl sitzt,  hat es bei der Fortbewegung  mit ihrem elektrischem Gefährt etwas einfacher.

Auf dem Weg Richtung Innenstadt testen wir zunächst den rollstuhlfreundlichen Bankautomaten in der Sparkasse. Diesen kann man unterfahren und so von vorne bedienen. Anschließend versuche ich vergeblich die Stufe zu einem Bekleidungsgeschäft zu überwinden und wackele dann ziemlich unsicher über den Sandboden am Bohlenplatz.

Zugeparkte Bordsteine

Über einen Mangel an abgesenkten Bordsteinen kann man sich in der Stadt nicht beklagen, nur wenn diese wie vor der Universitätsbibliothek, mit Fahrrädern zugeparkt werden, sind die Abflachungen wenig hilfreich.  Die schweren Schwingtüren werden mir dann glücklicherweise von hilfsbereiten Studenten aufgehalten; denn ziehen, festhalten und mit beiden Händen den Rollstuhl anschieben ist nicht einfach. Türen sind auch sonst ein Thema, mit dem man sich als Fußgänger kaum beschäftigt. Ob es Drehtüren sind, deren Geschwindigkeit mit dem Rollstuhl eine ziemliche Herausforderung darstellen oder automatische Türen, die sich innerhalb von Sekunden wieder schließen. Das Betreten von Gebäuden wird zu einer neuen Herausforderung.

In den meisten Fällen wird bei Neubauten inzwischen darauf geachtet, dass der Zugang wenigstens nicht durch Stufen versperrt wird, berichtet meine 52-jährige Begleiterin. Aber mit Rampen, die so steil sind, dass man beim Hochfahren fast nach hinten kippt und beim Hinunterfahren einem das Herz in die Hose rutscht, hat man auch nicht viel gewonnen.

Einkaufen als Herausforderung

 Über das Kopfsteinpflaster der Fußgängerzone ruckeln wir dann vorbei an den Stehtischen einer Imbissbude; eine ziemlich diskriminierende Erfindung für Rollstuhlfahrer; in Richtung Arcaden. Wenn man sich unterhalb der Gürtellinie bewegt, wird auch das Einkaufen zu einer neuen Erfahrung. Weder die Auslagen in der Bäckerei, der Pizzeria oder der Eisdiele lassen sich überblicken, geschweige denn, dass man an die obersten Regalfächer im Supermarkt kommt. Auch beim Bezahlen blickt die Verkäuferin zunächst zu meiner stehenden Begleiterin, die mich an die Kasse schiebt,  obwohl ich Ware und Geld in der Hand habe.

Rathaus und Stadtbibliothek lassen,  was die Behindertenfreundlichkeit angeht, kaum Wünsche offen.  In Cafés, Bars, Restaurants und Kinos stößt man aber noch häufig auf fehlende Rampen, Toiletten  oder Rollstuhlplätze.

Anschieben geht in die Arme

Zumindest können wir mit dem Euro-Schlüssel, den jeder Besitzer eines Behindertenausweises für 25 Euro beantragen kann und der in den meisten EU-Ländern passt, problemlos die Behindertentoiletten am Bohlenplatz und in den Bibliotheken nutzen.

Nach einiger Zeit muss ich allerdings feststellen, dass das Anschieben ziemlich auf die Arme geht und bin froh, dass wir für den Rückweg den Bus nehmen. Der Busfahrer klappt uns manuell eine Rampe herunter und wir stellen uns mit dem Rücken zur Fahrtrichtung auf die dafür vorgesehen Plätze. Der Tag war wirkliche spannend  und auf jeden Fall eine Erfahrung wert; trotzdem  ist es eine Erleichterung, als ich wieder festen Boden unter den Füßen habe.

Die Stadt hat schon früh begonnen sich mit den Rechten und Bedürfnissen behinderter Menschen zu befassen. Erlangen schuf bereits 1995 als einer der ersten Städte die Stelle des Behindertenbeauftragten, welcher als Vermittler, Berater und Ansprechpartner für die Stadt, Unternehmen und Betroffene fungiert. Drei Jahre später erfolgte mit dem Stadtratsbeschluss zum barrierefreien Bauen ein wesentlicher Schritt auf dem Weg zur Behindertenfreundlichkeit. Künftig sollten alle städtischen Neu- und Umbauten barrierefrei sein.

Mit Thomas Grützner als Behindertenberater, Bürgermeisterin Elisabeth Preuß als Inklusionsbeauftragte und seit 2015 mit dem Büro für Chancengleichheit und Vielfalt stehen für Menschen mit Behinderung zahlreiche Anlaufstellen zur Verfügung. Das Zentrum für selbstbestimmtes Leben, die Lebenshilfe, Access, Wabe und viele weitere Vereine und Selbsthilfegruppen sorgen dafür, dass sich Betroffene aktiv für ihre Bedürfnisse einsetzten, sich austauschen und ihre Interessen vertreten können.

Das Forum Behinderte Menschen in Erlangen, ein Zusammenschluss von 29 Behindertenorganisationen und Selbsthilfegruppen, erarbeitete nach dem Beitritt Deutschlands zur UN-Behindertenrechtkonvention (BRK), ein Übersicht über die aktuelle Situation in der Stadt mit zahlreichen Vorschlägen wie die Forderungen der BRK konkret umgesetzt werden könnten.

Dieses Arbeitsprogramm wurde 2011 der Stadt übergeben und galt als wichtiger Schritt zur gleichberechtigten Teilhabe für alle Menschen.

In den letzten Jahren hat sich daraufhin viel bewegt. Die Stadt und die Ämter sind durch die neu geschaffene Verbindlichkeit aktiv geworden, ein Großteil der Punkte wurde erfüllt oder in Angriff genommen. Nach fünf Jahren wurde das Arbeitsprogramm nun bewertet und aktualisiert. Es hat sich gezeigt, dass die Situation für Rollstuhlfahrer bereits recht komfortabel ist und inzwischen auch die Bereiche barrierefreie Kommunikation und leichte Sprache in den Fokus gerückt sind. Bis zu einer inklusiven Gesellschaft ist es noch ein langer Weg, aber „man merkt es tut sich was“, so Bürgermeisterin Elisabeth Preuß.

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