Fehlalarm am Ohm-Gymnasium: Vier Stunden der Angst

2.10.2018, 19:20 Uhr
Fehlalarm am Ohm-Gymnasium: Vier Stunden der Angst

© Klaus-Dieter Schreiter

Es ist kurz vor 16 Uhr, als Andreas Schweins die Schulturnhalle unter Polizeischutz verlässt. Etwa hundert Meter muss er zu Fuß zurücklegen von der gläsernen Ausgangstür die leergefegte Straße "Am Röthelheim" entlang, bis an die Straßenecke Ohmplatz.

Schweins ist Mitglied der Schulleitung des Ohm-Gymnasiums, ein großgewachsener Mann, den so schnell nichts umhauen kann. Doch auch wenn die Nachricht, die er gleich überbringen wird, eine gute ist, so sind diese gut hundert Meter an schwer bewaffneten Polizisten vorbei bis vor zu den vielen Eltern, die sich mit angsterfüllten Gesichtern vor einem Absperrband versammelt haben, wohl die schwersten Schritte seiner Berufslaufbahn.


+++ Amok-Alarm im Ohm-Gymnasium löste Großeinsatz aus +++


Während der Mittagspause, noch vor 14 Uhr, hatte es eine Durchsage im Gymnasium gegeben, erzählt Lisa. Die 17-Jährige hatte eine Freistunde, saß mit neun oder zehn Mitschülern in einem Aufenthaltsraum. Manche spielten mit ihren Handys, andere unterhielten sich, aßen etwas. "Plötzlich kam die Durchsage: Alarm! Wir sollen uns alle auf den Boden legen und die Türen absperren." Doch es brach gar keine Panik aus – schon einmal hatte es diese Tonbanddurchsage im Schulhaus gegeben: zu Testzwecken im Falle einer Gefahr. "Wir haben uns wie immer hingelegt und gewartet, bis die Entwarnung kommt", erzählt Lisa. Normalerweise eine Sache von wenigen Sekunden. Doch die Entwarnung kam diesmal nicht.

Weil sie keinen Schlüssel für den Raum besaßen, hat Lisa mit ihren Mitschülern die Tür von innen verbarrikadiert: "Wir haben Tische genommen, Stühle", sagt sie. "Schlagartig hatten wir große Angst. Ich habe gedacht: Jetzt ist vielleicht gleich alles vorbei."

Da lagen sie nun. Manche tippten SMS an ihre Eltern, andere versuchten sie anzurufen. Und weil auch nach etwa einer halben Stunde keine Entwarnung zu hören war, sind sie plötzlich aufgestanden, haben die Fenster geöffnet, sind hinaus in den Schulhof geklettert und weggerrannt.

Es war der Zeitpunkt, als die ersten Einsatzkräfte der Polizei eintrafen: Streifenfahrzeuge, aber auch dunkle Limousinen mit Blaulicht auf dem Dach, silberne Klein- und Campingbusse mit schwarz getönten Scheiben. Binnen weniger Minuten veränderte sich die ruhige Wohnstraße Am Röthelheim, ein kleines Netz aus Einbahnstraßen mitten in der Stadt, wo ein Bächlein fließt und viele Bäume und Büsche einen farbenfrohen Herbst zeichnen, in eine martialische Szenerie, die man nur aus Filmen kennt: Mit Skimasken vermummte Polizisten in schusssicheren Westen springen aus den Fahrzeugen, laden automatischen Waffen durch, werfen sich Sporttaschen über die Schulter, ziehen sich Helme über. Mikrofone knacken, Funksprüche murmeln durch Funkgeräte, Streifenpolizisten entrollen weitere Absperrbänder.

Bleiche Gesichter im Nieselregen

Ein paar Meter weiter bleiben Passanten stehen, Schüler in dünnen Pullovern mit Handys am Ohr stehen mit bleichen Gesichtern im Nieselregen. Eltern treffen vor dem Gebäude ein, laufen hektisch umher auf der Suche nach ihren Kindern und nach Informationen.

In der benachbarten Rückertschule macht sich gerade Andrea Gerhardt auf den Heimweg. Da fallen der Schulleiterin der Grundschule die Schüler auf, die in der Kälte stehen. "Ich hatte keine Informationen", sagt sie, aber um die Notlage zu erkennen, braucht es nur einen Blick auf die Straße. Auch die Rückertschule hat ein Sicherheitssystem für Notfälle, "man hilft sich gegenseitig", sagt Gerhardt.

Die Schulleiterin sammelt die Kinder und ein paar junge Gymnasiallehrer ein, die sich sehr tapfer bemühen, in all der Unruhe Ruhe auszustrahlen. Sie schickt sie hinauf in die Grundschulaula. Und dort sitzen sie nun, vorrangig Fünft- und Sechstklässler, an ihren Mobiltelefonen, und beruhigen ihre Eltern. Manche weinen, andere halten sich im Arm. Es ist eine angespannte Atmosphäre, aber auch hier herrscht erstaunliche Ruhe. Das, obwohl die Information durchsickert, dass im Nebengebäude wohl der automatische Amok-Alarm ausgelöst wurde: Eine Durchsage für den absoluten Notfall, die eine Kette an Verhaltensmustern bei Lehrern und Schülern in Gang setzt als Reaktion auf die schrecklichen Amokläufe an Schulen auf der ganzen Welt, wie es sie auch schon in Winnenden, Erfurt oder Ansbach gegeben hat.

Vereint in Angst und Ungewissheit​

Draußen auf dem Ohmplatz finden unterdessen immer mehr Eltern zusammen. Eine Menschentraube vereint in Angst und Ungewissheit. Die umherstehenden Polizisten versuchen äußerst feinfühlend auf die vielen aufgeregten Nachfragen einzugehen. Aber auch die Beamten können selbst mit größter Empathie das wichtigste noch nicht schenken: Entwarnung.

"Meine Frau hat mich angerufen, sie hat geweint am Telefon", erzählt ein

Vater. Als die siebenjährige Tochter nicht aus dem Intensivierungsunterricht nach Hause kam, hatte sie sich Sorgen gemacht. Die ältere Tochter, elf Jahre jung, gehörte zu denen, die aus dem Fenster kletterten. "Mein Chef bei Siemens hat gesagt, ich soll sofort zur Schule fahren." Und da steht er nun wie so viele andere, kalt erwischt und herausgerissen von einer auf die andere Sekunde aus dem Alltag hinein in einen Albtraum. Im Business-Hemd, die dünne Jacke hat der Nieselregen auf den Schultern dunkel gefärbt. "Meine Tochter ist doch noch so klein", sagt er mehr zu sich selbst, "sie hat noch vor so vielem große Angst. Jetzt liegt sie allein auf dem Boden eines Klassenzimmers — und ihr Vater steht herum."

Auch ihm schickt der Himmel an diesem Tag Andreas Schweins. Der Lehrer kämpft, nachdem er unter dem Absperrband zu den Eltern hinübertauchte, sichtlich darum, große Gelassenheit auszustrahlen. "Kommen Sie bitte zusammen", ruft er, dann breitet er vor diesen bis ins Mark verängstigten Müttern und Vätern die Hände aus und ruft: "Ihren Kindern geht es gut. Alle sind in Sicherheit. Die Polizei hat sie in die Turnhalle gebracht, bis das Gebäude gesichert ist. Es gibt keinerlei Hinweis auf eine Gefahrensituation. Wir gehen mit großer Wahrscheinlichkeit davon aus, dass der Alarm versehentlich ausgelöst wurde."

Dasselbe bestätigt Polizeisprecher Michael Konrad kurz darauf: "Was den Fehlalarm ausgelöst hat, müssen wir untersuchen." Ein technischer Defekt ist wahrscheinlich, einen Missbrauch schließt Michael Schweins aus. Er möchte nicht zu viel über das Sicherheitssystem verraten: "Auch ein noch so sicheres System kann gehacked werden."

Die Kinder, sagt Schweins den Eltern, können erst gegen 18 Uhr die Turnhalle verlassen, "sobald der Einsatzleiter das Okay gegeben hat". Nachdem Schweins allerlei Fragen so gut es ging beantwortet hat, verabschiedet er sich wieder: "Ich würde gern zurück zu den Kollegen und den Kindern in der Turnhalle." Noch bis dreiviertel Sechs bleiben die Eltern zurück, manche entrüstet, manche traurig, viele vorsichtig erleichtert – aber alle vereint im Schicksal. "Wissen Sie", sagt eine Mutter, "auch wenn alles nur ein Fehlalarm war: Ich wünsche Ihnen, eine solche Angst niemals im Leben ertragen zu müssen."