Neugotik trifft Moderne

Der "hohle Zahn" der Südstadt: Die Christuskirche hat mit ihren Narben einen eigenen Charme

20.12.2022, 10:55 Uhr
Im September 1956 feierte die Christuskirche ihr Richtfest für den Neubau, der an die Stelle des am 2. Januar 1945 zerstörten Hauptraums rückte.

© Eckhard Graf von Mandelsloh, Archiv VNP Im September 1956 feierte die Christuskirche ihr Richtfest für den Neubau, der an die Stelle des am 2. Januar 1945 zerstörten Hauptraums rückte.

Im Jahr 1894 feierten die Lutheraner der Nürnberger Südstadt die Einweihung ihrer Christuskirche, ein Bau von der Anmutung einer gotischen Kathedrale. Selbst die Bomben des Zweiten Weltkriegs konnten dieses Monument des Glaubens nicht völlig vernichten, veränderten aber seine Form.

Wohl ein jeder kennt die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Berliner Ku’damm. Und ziemlich viele wissen, dass von diesem einst stolzen neuromanischen Bauwerk seit dem Zweiten Weltkrieg nur der "hohle Zahn" des Turms erhalten ist. Daneben schuf Egon Eiermann 1959 bis 1963 eine Inkunabel der sakralen Baukunst der Nachkriegszeit.

Wirkt aus der Luft gesehen wie ein Markierungspfeil: der spitze Backsteinturm der Christuskirche prägt das ganze Steinbühl.

Wirkt aus der Luft gesehen wie ein Markierungspfeil: der spitze Backsteinturm der Christuskirche prägt das ganze Steinbühl. © Günter Distler

Und nun kommen wir nach Nürnberg, wo wir am Siemensplatz in Steinbühl seit 1957 eine ganz ähnliche Konstellation vorfinden: Im Gegensatz zu Eiermanns Kirchenbau, dem die Berliner Schnauze ob seiner Prismenform den Kosenamen "Puderdose" verpasst hat, schufen Werner Lutz, Robert Elterlein und Hans Anton Mayer hier als Ersatz für das 1945 fast völlig zerstörte Langhaus einen schlichten Kubus mit Stahlbetonbindern und flachem Satteldach, in dessen Fassaden wandhohe Fenster, außen teils mit Formsteinen verblendet, geradezu mystisches Licht in den Gemeinderaum strömen lassen.

Zwischen Mietskasernen und Schloten

Der Luftangriff vom 2. Januar 1945 hatte vom Altbau nur Mauerreste und den 75 Meter hohen Glockenturm mit seinem weithin sichtbaren Spitzhelm übriggelassen. Ein trauriges Beinahe-Ende und eine glückliche Wiederauferstehung für einen der bedeutendsten Nürnberger Kirchenbauten des 19. Jahrhunderts.

Der Ultramarinfabrikant und Wahl-Steinbühler Wilhelm Heyne hatte 1885 in seinem Testament verfügt, dass das Areal am heutigen Siemensplatz im Herzen von Steinbühl dem örtlichen Kirchenbauverein zufallen solle, der sich damals bereits seit 20 Jahren um ein würdiges evangelisches Gotteshaus für den Arbeiterstadtteil bemüht hatte.

1898 entstand diese "Mondscheinkarte" der Christuskirche, bei der der Fotograf das am Tag aufgenommene Motiv durch Bearbeitung in ein Nachtmotiv verwandelte.

1898 entstand diese "Mondscheinkarte" der Christuskirche, bei der der Fotograf das am Tag aufgenommene Motiv durch Bearbeitung in ein Nachtmotiv verwandelte. © Ansichtskarte Verlag Hermann Martin (Sammlung Sebastian Gulden)

Diese kolorierte Lithografie von 1902 zeigt eindrücklich, dass die Christuskirche einst wie auf einem Präsentierteller inmitten des Siemensplatzes stand.  

Diese kolorierte Lithografie von 1902 zeigt eindrücklich, dass die Christuskirche einst wie auf einem Präsentierteller inmitten des Siemensplatzes stand.   © Ansichtskarte Verlag Wilhelm Eichner (Sammlung Sebastian Gulden)

Den Altar der neuen Christuskirche überhöht ein Christus des Schweizer Künstlers Meinrad Burch-Korrodi von 1957.  

Den Altar der neuen Christuskirche überhöht ein Christus des Schweizer Künstlers Meinrad Burch-Korrodi von 1957.   © Ansichtskarte F. Lindner (Sammlung Sebastian Gulden)

Mit Hans Kieser und David Röhm gewann der Bauverein zwei der renommiertesten Nürnberger Architekten ihrer Zeit, die sich vorher allerdings vornehmlich mit dem Entwurf von Villen und Mietshäusern befasst hatten. Dennoch meisterte das Duo die schwierige Aufgabe mit Bravour: Sie gaben der Kirche 1891 bis 1894 die klassische Form einer Pseudobasilika auf dem Grundriss eines Kreuzes mit Vierungsturm und dem Glockenturm als Blickfang an der Westfassade.

Indes, die Kirchenschiffe und deren Vierung vor dem Chorraum waren derart breitbeinig angelegt, dass das Innere fast den Charakter eines Zentralraumes mit Fokus auf den Altar erhielt, wie ihn die lutherische Architekturtheorie jener Zeit als Ideal ansah.

Die undatierte Aufnahme stammt aus den ersten Nachkriegsjahren. An der Landgrabenstraße sind neben den ausgebrannten Ruinen der Kirche schon wieder neue Wohnhäuser entstanden – rechts herrschen noch Provisorien und Baustelle.  

Die undatierte Aufnahme stammt aus den ersten Nachkriegsjahren. An der Landgrabenstraße sind neben den ausgebrannten Ruinen der Kirche schon wieder neue Wohnhäuser entstanden – rechts herrschen noch Provisorien und Baustelle.   © Gertrud Gerardi, Archiv VNP

Eine besondere Nähe zur örtlichen Bautradition konnte man der Christuskirche – ganz im Gegensatz etwa zu der erst 1901 vollendeten Peterskirche von Josef Schmitz – allerdings nicht vorwerfen. Ihre Vorbilder lagen in der deutschen Hochgotik des 14. Jahrhunderts. Die Fassaden waren wie der Turm aus roten Ziegeln gefügt, nur die Gliederung und der Bauschmuck bestanden aus Sandstein.

Mäzene stifteten Ausstattung

Der gewaltige Kirchenbau war viel mehr als eine Gemeindekirche: Er war eine städtebauliche Dominante, ein Leuchtturm zwischen den Mietskasernen und Schloten der Südstadt. Er reihte sich ein in die große Zahl der großen Vorstadtkirchen, die als neue, fernwirksame Wahrzeichen die Plätze und Avenuen der Vorstädte des frühen Industriezeitalters zierten. Typisch für die Bauzeit - und völlig untypisch für die Vorbilder des Mittelalters - ist auch, dass die Kirche wie auf dem Präsentierteller allein auf dem Siemensplatz zum Stehen kam.

Heute ist von dem neugotischen Prachtbau nur der Turm geblieben, der nun etwas verloren wirkt.  

Heute ist von dem neugotischen Prachtbau nur der Turm geblieben, der nun etwas verloren wirkt.   © Boris Leuthold

Wie zu reichsstädtischer Zeit waren es die Menschen mit Einfluss und Geld, die durch Stiftungen für die Ausstattung der Kirche und ihren persönlichen Nachruhm sorgten. Unter den Mäzenen waren etwa die Industriellenfamilien Zeltner und Schuckert. Die Entwürfe für Altar, Kanzel und Glasmalereien lieferte der Kunstschulprofessor Karl Hammer, die Bildhauerarbeiten übernahmen unter anderem Johann Funk, Peter Süß und Johann Schiemer.

Goldene Christusfigur

Der Krieg hat davon kaum etwas übriggelassen. 1993 steckten dann auch noch zwei Jugendliche beim Zündeln den Kirchturm in Brand; er musste bis 1994 instandgesetzt werden.

Heute sind die modernen Glasfenster von Georg Meistermann und die fünf Meter hohe, vergoldete Christusfigur des Schweizer Künstlers Meinrad Burch-Korrodi, die vor einem ornamentalen Wandstreifen von Ludwig Manz montiert ist, die Blickfänge des Kirchenraums. Meide Büdel ergänzte das Ensemble beim letzten Umbau 2006 bis 2008 um einen gleichsam schwebenden Altar. Damals wurden auch die Gemeinderäume im Westteil des Langhauses eingebaut.

Der Heilige Abend, der Geburtstag Jesu Christi, wird wieder ein besonderer Tag in der Geschichte der Christuskirche sein. Wir hoffen, dass es ein friedliches Fest sein wird, nicht nur in Steinbühl. In diesem Sinne wünscht das Projekt "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" seinen Leserinnen und Lesern ein gesegnetes Weihnachtsfest und ein gutes neues Jahr!

Diese Serie lädt zum Mitmachen ein. Haben Sie auch noch alte Fotos von Ansichten aus Nürnberg und der Region? Dann schicken Sie sie uns bitte zu. Wir machen ein aktuelles Foto und erzählen die Geschichte dazu. Per Post: Nürnberger Nachrichten/Nürnberger Zeitung, Lokalredaktion, Marienstraße 9, 90402 Nürnberg; per E-Mail: redaktion-nuernberg@vnp.de

Noch viel mehr Artikel des Projekts "Nürnberg – Stadtbild im Wandel" mit spannenden Ansichten der Stadt und Hintergründen finden Sie unter www.nuernberg-und-so.de/thema/stadtbild-im-wandel oder www.facebook.com/nuernberg.stadtbildimwandel

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