Großes Chaos in der Wohnung

14.10.2010, 13:18 Uhr
Großes Chaos in der Wohnung

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„Der Begriff Vermüllung ist so nicht richtig“, erklärt der Pädagoge und Geschäftsführer des H-Teams e.V., Wedigo von Wedel. „Denn das, was wir sehen, ist kein Müll – diese Dinge erfüllen für die Betroffenen bestimmte Funktionen.“ Mit Dingen meint von Wedel alles Mögliche: Verpackungen, Zeitungsreklame, Lebensmittel, Kabel und Elektrogeräte, Nussschalen, Stifte – und im Extremfall Kot und Urin. Mit Betroffenen meint von Wedel Menschen mit Verwahrlosungstendenzen, Sammelzwang und Messie-Syndrom.

Sie alle haben gemeinsam, dass in ihrem Zuhause eine scheinbare Unordnung herrscht, die Außenstehenden unerträglich vorkommt. Dennoch gibt es Unterschiede. Anders als die sogenannten passiven Sammler, die Dinge ohne erkennbares System horten, pflegen und behüten „aktive“ Sammler und Menschen mit Messie-Syndrom ihren Besitz, mag er für andere noch so wert- und nutzlos sein. Befrage man die Betroffenen, warum sie etwas aufbewahrten, seien die Antworten oft ähnlich. Manche Dinge hätten einen Erinnerungswert, andere könnten für einen Bekannten nützlich sein oder würden für einen späteren Zeitpunkt aufbewahrt. Die eigentlichen Ursachen sind komplex und liegen tiefer. „Traumatische Erlebnisse, unbewusste Ängste oder massive Überforderung können eine große Rolle spielen“, sagt Marianne Bönigk-Schultz, die selbst unter dem Messie-Syndrom litt. Dazu kämen Verlustängste.

Das äußere Chaos wird zum Ausdruck des inneren Zustandes. Der Begriff Messie, abgeleitet aus dem englischen Wort für unordentlich, schlampig und schmutzig, bezeichnet daher nur ein Symptom einer Vielzahl von Problemen und Eigenschaften. Eine besteht darin, dass Messies in ihrem eigenen Zuhause einfache Routinetätigkeiten nicht ausführen können. Zum Beispiel gelingt es ihnen nicht, zu entscheiden, was weggeworfen werden kann und was nicht. Sie haben Konzentrationsschwierigkeiten, fühlen sich fremdbestimmt und haben das Gefühl, chronisch überfordert zu sein. Gleichzeitig leiden sie unter einem ausgeprägten Selbstwertdefizit und einem geringen Selbstvertrauen.



Ursache und Wirkung zugleich ist die fehlende Einbindung in ein soziales Netzwerk. Statt zu Personen werden Bindungen zu Dingen aufgebaut. Dennoch seien Messies „hochsensibel für andere und fühlen sich verantwortlich für alles Mögliche – dabei nehmen sie sich selbst nicht wahr“, so Bönigk-Schultz. Zu diesem Widerspruch passt das Phänomen, dass „Messies“ beruflich durchaus erfolgreich sein können und Organisationsfähigkeiten besitzen. Nur zu Hause sind diese Fähigkeiten blockiert.

Seitdem der Begriff Messie-Syndrom in den 80er Jahren in den USA geprägt wurde, gibt es nur wenige wissenschaftliche Erkenntnisse und Erhebungen darüber. Deswegen und wegen der Individualität eines jeden Falles existiert weder eine einheitliche Therapie, noch ist das Messie-Syndrom als eigenständige psychische Erkrankung anerkannt. Fachleute schätzen, dass deutschlandweit etwa 1,8 Millionen Menschen betroffen sind. Das bloße Aufräumen der Wohnung und damit das Zerstören der aufgebauten, vertrauten Umgebung sei jedenfalls keine Lösung, dem Problem dauerhaft zu begegnen. Vielmehr stürze es die Betroffenen „in eine massive psychische Krise“, so von Wedel.

Stattdessen müssten sie „mitbekommen, dass es ihre Denkart ist, die sie in ihrer Situation gefangen hält. Messies denken immer, dass ihr Leben schwieriger ist als das der anderen. Ihre Selbstwahrnehmung unterscheidet sich von der normal Fühlender“, beschreibt Bönigk-Schulz. Eine Therapie müsse dem Betroffenen zuerst das Gefühl geben, dass er vom Chaos nicht überwältigt werde. Am Anfang gehe es deswegen darum, das Chaos fassbar zu machen.