Touren mit dem Bus

Reichsparteitagsgelände Nürnberg: Spezielle Brillen vermischen Vergangenheit und Gegenwart

5.8.2023, 19:00 Uhr
Die Gegenwart im Rücken, die Vergangenheit im Blick. Maßstabsgetreue Computer-Modelle zeigen die Zeppelintribüne zu Zeiten des dritten Reichs. 

© Alexander Krebelder, NNZ Die Gegenwart im Rücken, die Vergangenheit im Blick. Maßstabsgetreue Computer-Modelle zeigen die Zeppelintribüne zu Zeiten des dritten Reichs. 

Wie in echt, nur anders - mit Virtual Reality (VR): Für das Eintauchen in eine nicht existierende, virtuelle Welt braucht es VR-Brillen. Und die haben alle Geschichtsinteressierten auf der Nase, die mit „Blickwinkel Tour“ in eine andere Zeit reisen. „In Zeiten, die es nie gegeben hat und die es nie geben wird“, sagt Art Petto. Petto hat das Unternehmen „Blickwinkel Tour GbR“ 2018 gemeinsam mit René Kasparek gegründet.

NS-Architektur wird erlebbar

Die Idee: Während einer bequemen Busfahrt über das Reichsparteitagsgelände virtuell das zu zeigen, was nie fertiggestellt wurde, nicht mehr vorhanden ist oder zwar geplant, aber erst gar nicht zur Ausführung gelangte. Und so bauten der selbständige Webdeveloper Petto und der ebenfalls freischaffende Softwareentwickler und 3D-Artist Kasparek das Reichsparteitagsgelände basierend auf alten Plänen, Aufzeichnungen und Skizzen virtuell nach: In einer interaktiven 3D- und 360°-Umgebung werden nun die gigantomanischen Bauwerke und Szenerien der NS-Diktatur erlebbar, die Albert Speer, Hitlers Lieblingsarchitekt, nach den Herrschaftsfantasien des selbsternannten „Obersten Bauherrn“ entworfen hatte.

Die Arbeiten für das Deutsche Stadion, vorgesehen als größte Sportarena der Welt, gedacht für 400.000 Zuschauer, kam in Wirklichkeit nie über die Baugrube hinaus, die heute der Silbersee ist. Die virtuell konstruierte gigantische Prunkanlage dagegen kann mit VR-Brille besichtigt werden. In der Realität findet sich dort heute das Messegelände. An den Resten des Zeppelinfeldes und der Zeppelinbühne nagt der Zahn der Zeit genauso wie an der Bauruine der für 50.000 Menschen geplante Kongresshalle.

Protziger Rundbau

Mit der VR-Brille tut sich hier ein protziger Rundbau, der das Colosseum in Rom bei weitem übertreffen sollte. Es ist eine Architektur, die mit dem für Hitler zentral platzierten Rednerpult und dem riesigen Glasdach auf die Karte „Sakralbau“ setzte, die einschüchtern und der Propaganda und Machtdemonstration dienen sollte.

Ehe die geschichtsträchtigen Touren im Herbst 2022 starteten, ließen die Initiatoren ihre Geschäftsidee im Offenen Innovationslabor Josephs von der Öffentlichkeit unter die Lupe nehmen. Im „Josephs“, 2014 von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU) und dem Fraunhofer IIS an den Start gebracht, können unterschiedlichste Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen in einer dreimonatigen Testphase von den Besuchern beurteilen lassen.

Auf die Idee, mit Virtual Reality durch das Reichsparteitagsgelände zu touren, sei er beim Rausschauen aus dem Fenster gekommen, erzählt Petto. Da habe er Touristen beobachtet, die mit einem Bilderordner über den Hauptmarkt gelaufen seien. Das habe ihn daran erinnert, dass er in der achten Klasse Ordner hatte, was aber heute nun wirklich nicht mehr zeitgemäß sei. „Und weil wir als leidenschaftliche Entwickler immer Probleme lösen und Dinge optimieren wollen, sind wir darauf gekommen, Bildung und Wissen in einer zeitgemäßen Art und Weise zu visualisieren und entsprechend zu vermitteln.

Machbarer Aufwand

Die Geschichte der Altstadt habe sich für ein VR-Pilotprojekt als zu umfangreich erwiesen. Beim Reichsparteigelände dagegen sei der Aufwand, um eine Zeit, eine Geschichte sowie die Architektur zu definieren, machbar gewesen. Die Softwareentwicklung konnten die Firmengründer, nach Pettos Worten mit ihrer eigenen Expertise stemmen. Der größte Brocken sei die Hardware gewesen. Eine Förderung für das Pilotprojekt habe es nicht gegeben. Derzeit verfügt das Unternehmen über 40 VR-Brillen.

Die neu entwickelte Technik ohne Zuspielgeräte wurde von der Ruhr Uni Bochum in einer Studie bewertet. Für die Recherche und die wissenschaftlich korrekten Informationen haben sie das Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände ins Boot geholt und als Kooperationspartner den Verein „Geschichte für Alle“. Den Bus stellt Schielein Reisen bereit. „Und das dankenswerter Weise sehr flexibel“, betont Petto.

Einmal wöchentlich steht eine öffentliche Tour auf dem Programm von Blickwinkel Tour, Kerngeschäft des Unternehmens ist laut Petto jedoch die exklusive Durchführung für Gruppen sowie für Schulklassen und Studierende. „Wir würden außerdem gerne den Schiffstourismus für uns gewinnen.“ Bereits trage sich das Projekt finanziell. „Es geht viel über Mundpropaganda, aber auch die Erwähnung auf der Website der Congress Tourismuszentrale bringt Interessenten“.

Doch der Tour Guide Anbieter will sich weiterentwickeln sowohl in innovativen Technologien als auch bezüglich des Programms. Themen für die Geschichtsstunde der besonderen Art könnten aus Sicht von Blickwinkel Tour das Fembohaus und der Hauptmarkt im Jahr 1910 sein.