"Elle": Gefährliches Spiel zwischen Opfer und Täter

16.2.2017, 08:00 Uhr

© MFA

Der Auftakt ist nichts für zarte Seelchen. Ein ganz in Schwarz gekleideter Mann mit Skimaske dringt in die Villa der Unternehmerin Michèle ein, überfällt und vergewaltigt sie. Paul Verhoeven ("Basic Instinct") schont den Zuschauer nicht. Durch schnelle Bildschnitte dringt die Brutalität der Szene förmlich bis zum Kinosessel vor.

Und Michèle? Statt das Naheliegende und Erwartbare zu tun - nämlich zur Polizei zu gehen, auf dass der Täter zur Rechenschaft gezogen wird -, fegt sie die Spuren weg, nimmt ein Bad und bestellt sich was zu Essen. Irgendwie ist man zwar dankbar, dass sie so schnell und ohne mit der Wimper zu zucken zur Tagesordnung übergeht. Denn so kommt der Film nach dem aufwühlenden Start vorerst wieder zur Ruhe. Doch verstörend wirkt diese coole Reaktion auf den Gewalt-Akt dennoch.

Irritierend wird man in diesem Film später noch einiges finden. Zum Beispiel, dass die elegante Michèle mit ihrer Freundin eine Firma für Computerspiele führt, in denen auch sexuelle Gewalt nicht zu kurz kommt. Oder dass sie schließlich Kontakt mit dem Vergewaltiger - der aus ihrem Umfeld stammt - aufnimmt, um ein gefährliches und fatales Spiel mit ihm zu beginnen... Keine Frage, diese Figur provoziert mit ihrem Verhalten nicht nur die Protagonisten im Film, sondern auch den Zuschauer.

Traum der Kindheit

Erst nach und nach liefert das Drehbuch eine mögliche Erklärung für Michèles unterkühlte Attitüde. Als sie zehn Jahre alt war, hat ihr psychopathischer Vater in der Nachbarschaft ein Blutbad angerichtet. Um das Trauma zu verkraften und weiter ihren Part in der Gesellschaft spielen zu können, hat sie sich - so lässt die Geschichte erahnen - einen stabilen Gefühlspanzer zugelegt. Und der scheint noch immer zu funktionieren.

Doch der Film konzentriert sich nicht nur auf die brutale Vergewaltigung und Michèles Umgang damit. Freilich überspitzt und mit einem Sarkasmus, der auch seiner Hauptfigur eigen ist, entwirft Paul Verhoeven zudem das Tableau einer ziemlich maroden, bourgeoisen Gesellschaft. Denn in geregelten Bahnen läuft das Leben der Menschen, mit denen sich die taffe Unternehmens-Chefin umgibt, selten. Aber Michèle versucht krampfhaft, die Kontrolle über alles und jeden zu behalten - Mutter, Sohn, Ex-Ehemann und Liebhaber eingeschlossen.

Paul Verhoeven ist ein genauer Beobachter der Verhältnisse. Und Isabelle Huppert eine Schauspielerin, die ihre Rolle mit der gewohnt kühlen, messerscharfen Präzision spielt. Beides allein macht "Elle" schon sehenswert. Dazu kommt, dass der Spannungsbogen durch immer neue Twists über zwei Stunden stabil bleibt und ein trockener, sarkastischer Humor die Story vor allzu viel Schwere oder Pathos bewahrt. Trotz vieler Verrätselungen ist der Film eine gekonnte Gratwanderung, die den Zuschauer ständig schwanken lässt zwischen Verständnis für das Verhalten der Heldin und Ablehnung ihres Tuns. (F/D/B/130 Min.)

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