"Human Flow": Appell an das Mitgefühl

16.11.2017, 18:25 Uhr
Ai Weiwei in einem griechischen Flüchtlingscamp.

© A2800/_Zoltan Balogh Ai Weiwei in einem griechischen Flüchtlingscamp.

Am Anfang ist die Leinwand blau. So strahlend blau, wie nur das Mittelmeer blau sein kann. Ein kleiner weißer Punkt arbeitet sich allmählich vom Bildrand in die Mitte hinein. Die Kamera nähert sich langsam, bis man das voll besetzte Boot erkennt. Ein klarer Schnitt holt die Kamera aus der Luft zurück auf die Erde. Am Strand der Insel Lesbos nehmen Helfer die Flüchtlinge in Empfang. Sie haben es geschafft. Sie haben überlebt. Sie sind in Europa.

Wie oft hat man diese Bilder in den vergangenen zwei Jahren in den Nachrichten gesehen? Wie sehr war man von ihnen berührt? Wie sehr haben wir uns daran gewöhnt? Wenn Ai Weiwei seine Doku "Human Flow" aus der Vogelperspektive beginnen lässt, um danach mit wackeligen Smartphone- Aufnahmen die Ankommenden aus nächster Nähe zu zeigen, dann steckt dahinter ein konzeptionelles Bekenntnis. Denn einerseits geht es Ai Weiwei um die Draufsicht auf die Flüchtlingskrise als globales Problem, andererseits um den direkten Blick von Mensch zu Mensch auf diejenigen, die ihre Heimat hinter sich lassen müssen.

65 Millionen sind es weltweit. Die höchste Flüchtlingszahl seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. In 23 Länder sind Ai Weiwei und seine Teamkollegen 2016 gereist, in dem Jahr, in dem sich die Grenzen nach Europa zu schließen begannen und die Bundesregierung mit dem Türkei-Deal die Flucht über das Meer einzudämmen versuchte.

Tiefe Verzweiflung und Hilflosigkeit

"Human Flow" reist nach Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze. Eine Frau aus Syrien erzählt von der Verzweiflung, die sie aus ihrer Heimat vertrieben hat und die hier, wo alle Hoffnungen auf ein besseres Leben zu Ende zu sein scheinen, nur noch schlimmer wird. Nach wenigen Sätzen erstickt die Stimme in Tränen. Das Weinen geht über in Erbrechen. Die Kamera bleibt auf dem Stativ in respektvoller Distanz stehen, während der Regisseur schon längst zu ihr geeilt ist, ihr Tücher und einen Eimer reicht.

Eine kleine, kurze Szene ohne jegliche Effekthascherei, die nachwirkt, weil sie die tiefe Verzweiflung der Betroffenen genauso zeigt wie die Hilflosigkeit unseres Mitgefühls. Zu diesem Mitgefühl - so lautet das eindringliche Credo des Filmes - gibt es keine menschliche Alternative, auch wenn das Ausmaß der weltweiten Flüchtlingskrise die Kräfte zu übersteigen scheint. Am Ende zeigt die Kamera einen riesigen Müllberg, der aus Tausenden neonroten Schwimmwesten besteht. Fast wie ein Ausrufezeichen sieht das aus, das daran erinnert, dass zu jeder dieser Schwimmwesten das Schicksal eines Menschen gehört, der nicht im Stich gelassen werden darf. (D/140 Min.) 

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