"Kindeswohl": Entscheidungen auf Leben und Tod

30.8.2018, 08:00 Uhr

© Concorde

Im Roman des britischen Erfolgsautors Ian McEwan ist Fiona Maye eine angesehene Londoner Richterin. Und so wie Emma Thompson diese Figur spielt, glaubt man das sofort. Fionas Auftritt strahlt von Anfang an Souveränität und Integrität aus, wenn sie über heikle Fälle entscheidet, wirkt sie taff und besonnen, aber nicht unnahbar. Tolle Frau, würde man sagen, eine, die ihr Leben im Griff hat und die so schnell nichts aus der Bahn wirft.

Doch in Fionas langjähriger Ehe läuft einiges schief. Weil die Arbeit einen großen Teil ihres Privatlebens bestimmt, fühlt sich ihr Mann Jack, den Stanley Tucci als klugen, geduldigen Partner spielt, vernachlässigt. Ihm fehlt die gemeinsame Zeit und der Sex. Und so offenbart er ihr eines Tages mehr verdrossen als provozierend, dass er eine Affäre beginnen wird. Eine Ansage zur Unzeit, denn Fiona bekommt einen Fall auf den Tisch, in dem es über Leben und Tod zu entscheiden gilt. Die Eltern des 17-jährigen, schwer an Leukämie erkrankten Adam verweigern die lebenswichtige Bluttransfusion, weil sich die Behandlung nicht mit ihrem Glauben als Zeugen Jehovas vereinbaren lässt. Die Klinik klagt dagegen.

Es ist nun an Fiona, den wahren Willen des Minderjährigen zu ergründen und darüber zu entscheiden, ob das Leben eines Kindes mehr wiegt als seine Würde. Religion steht gegen weltliche Justiz. Und Ian McEwan, der selbst die Drehbuchfassung seines Romans schrieb, erweist sich einmal mehr als Meister in der Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte. Er zitiert den britischen "Children Act" von 1989, nach dem "das Wohl des Kindes dem Gericht als oberste Richtschnur zu dienen" hat. Und Fiona fällt ihr Urteil erst, nachdem sie den eigentlich cleveren Jungen (Fionn Whitehead), der sich pubertär als Held inszeniert, im Krankenhaus besucht hat. . .

Über lange Strecken gelingt es Regisseur Richard Eyre, die einschlägigen Gerichtssequenzen geschmeidig mit den Szenen aus Fionas Privatleben gegenzuschneiden. Für die fabelhafte Emma Thompson ergeben sich dadurch immer wieder neue Gelegenheiten, die zweigeteilte Gefühlswelt ihrer Protagonistin überzeugend auszuspielen. Hier die selbstbewusst auftretende Juristin, dort die verunsicherte Ehefrau, die unter emotionalem Druck auch mal irrational agiert. Die Kamera unterstützt den Kontrast noch, indem sie Fiona einmal aus der Distanz auf ihrem erhöhten Richterstuhl zeigt, um sich dann wieder ihrem Gesicht zu nähern. Und Thompson weiß, wie man mit Mimik Gefühle transportiert.

Natürlich konnte McEwan die Ereignisse im Roman detailreicher und nachvollziehbarer entwickeln als im Drehbuch für ein 100-minütiges Kinodrama. Doch "Kindeswohl" funktioniert auch als bewegender Film wunderbar - sieht man vom oft aufdringlichen Soundtrack mal ab.

Und vom Ende. Wie im Roman wird Fiona dem leukämiekranken Adam nach ihrem Urteil noch öfter begegnen. Doch das emotional raffiniert eingefädelte Finale des Buches erschien den Filmemachern wohl zu nüchtern. Mit dem Ergebnis, dass sie in Sachen Melodramatik allzu dick auftragen. Zum Rest der Geschichte mag das nicht recht passen. (GB/106 Min.)

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